Seite:Die Gartenlaube (1872) 246.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

von der Welt, systematisch zur Dummheit und Geistesträgheit angeleitet, den stets unfehlbaren Seminarlehrern gegenüber vollständig meinungslos, willenslos, machtlos, rechtlos und – ehrlos, eine Leiche in ihrer Hand. Wie viel tüchtige Kraft ist bei der Einzwängung in das Prokrustesbett der Seminaranschauungen zu Grunde gegangen; wie Mancher hat vollständig verlernt, Mensch zu sein, da die einzelne Individualität im religiösen Urbrei des Unterrichts und der Erziehung vollständig unterging! Gewöhnlich zeigten sich neben der Abnahme des geistigen Vermögens im jugendlichsten Alter Unterleibskrankheiten, hypochondrische Verstimmungen und widernatürliche Geschlechtsverhältnisse in ihrem Gefolge.

Nie zum Prüfen, sondern nur zum Glauben angeleitet, die Schwungkraft des Geistes gelähmt, haben nur wenige junge Lehrer die Kraft, sich mit den hohen sittlichen Bestrebungen unserer Literatur bekannt zu machen und fortzuschreiten mit der Wissenschaft. Vielmehr sind sie vortrefflich erzogen, der Spielball pietistischer, hierarchischer und reactionärer Bestrebungen zu werden oder im Schlamme der Alltäglichkeit unterzugehen.




Die vorstehende Darstellung wird nicht nach Zeugen ihrer Wahrhaftigkeit erst zu suchen haben; sie werden sich zu Tausenden finden. Und wenn bis heute noch nicht so offenherzig „aus der Schule geplaudert“ worden ist, so fehlte es nicht an den „Thatsachen“, sondern am Muthe dazu, ein Mangel, den wir am wenigsten den armen gedrückten Lehrern zum Vorwurf machen wollen. Dem Verfasser sind wir aber die Erklärung schuldig, daß sein Artikel lange vor der Abdankung des Herrn v. Mühler vom preußischen Cultusministerposten in unseren Händen war und daß nicht irgendwelche Bedenken, sondern der durch den großen Krieg und seine Nachklänge vermochte Mangel an Raum die Veröffentlichung verzögerte. Wir sind diesem Zufall Dank schuldig, denn wir hoffen, daß der Inhalt dieses Artikels jetzt nicht blos zur aufregenden Lectüre dienen, sondern an maßgebender Stelle zu der Ueberzeugung führen möge: daß die Rückkehr zu den glänzendsten preußischen Schulzeiten, – die sich an die Namen eines Dinter, Rochow, Diesterweg knüpfen, so lange eine Unmöglichkeit bleibt, als solche Seminardirectoren, wie der Artikel sie schildert, und vor Allem die Väter der Regulative sammt ihrer Zuchtgenossenschaft noch in ihren Aemtern bleiben. Die Sünden einer zwanzigjährigen Mißleitung der Volksbildung sind nicht mit einem Landtags- oder Herrenhaussieg wieder gut zu machen: man muß einen Anfang wirklicher Umgestaltung sehen, wenn man mit freudigem Vertrauen in die Zukunft blicken soll.




Des Kaisers Tusculum.


Der Geburtstag des Kaisers ist jüngst zum ersten Male allüberall in den deutschen Gauen auf das Festlichste begangen worden und man hat in den verschiedenen Ländern dies- und jenseits des Mains dem Oberhaupte des deutschen Reiches diese Huldigung mit so rückhaltloser Freudigkeit dargebracht, daß man darin nur einen neuen Ausdruck jenes stolzen Gefühls erkennen kann, welches uns bei dem Gedanken überkommt, alle die getrennt gewesenen Theile Deutschlands wieder geeinigt und wieder unter Einem Hute zu sehen. Der Repräsentant der deutschen Einheit ist dem Volke aber der deutsche Kaiser, und darum lenkt es mit Recht seine Aufmerksamkeit immer wieder auf dessen Person, auf die Gewohnheiten, denen er auch im Privatleben huldigt, auf die Menschen, mit denen er sich umgiebt, auf die Orte, an denen er lebt.

Mein heutiger Beitrag hierzu – denn ein solcher ist der vorliegende Artikel – wird deshalb um so willkommener sein, als Schloß Babelsberg, der bekannte Land- und Ruhesitz des Kaisers Wilhelm, meines Wissens noch nie eine eingehende Schilderung in Wort oder Bild erfahren hat.

Gewiß sind schon Viele der Gartenlaubenleser auf der Berlin–Potsdam–Magdeburger Eisenbahn gefahren und diese wissen, daß der Zug, wenn er das Weberdorf Nowawes ober Neudorf passirt hat, nach einer Weile hält, aber nicht vor einem Bahnhofe, sondern vor einem kleinen Hause; es ist eine kleine Cottage, fast ganz aus geschnitztem Holze hergestellt, Gothik und Renaissance durcheinander, sie enthält nur ein Erdgeschoß, zu beiden Seiten desselben dehnen sich Veranden von blühenden Sträuchern umwogt aus. Die Läden an den Fenstern des Hauses sind aufgezogen; durch die aus einer Spiegelscheibe bestehenden Fenster sieht man in das Innere, in zwei Salons, die mit hellem Kattun decorirt sind. „Was ist das hier?“ fragen die meisten Insassen der Waggons. Das ist das Stationshäuschen, welches die Verwaltung der Berlin–Potsdam–Magdeburger Bahn dem Kaiser Wilhelm hat bauen lassen, damit derselbe vom Bahnhof aus den weiten Umweg nicht zu machen braucht, um noch nach Schloß Babelsberg zu gelangen.

„Der Kaiser steigt aus,“ geht es von Mund zu Munde, aus allen Coupés strecken sich Köpfe, um die greise Gestalt mit ehrfurchtsvollen Blicken zu begrüßen; ohne Beihülfe und mit einer fast jugendlichen Beweglichkeit steigt der Kaiser den ziemlich steilen Wagentritt hinab. Die hohe, kräftige, imposante Gestalt ist mit einem leichten Militärpaletot bekleidet, darunter mit einem einfachen Militärüberrock. Mit ihm verläßt noch ein Adjutant den Salonwagen, ein noch junger, sehr kräftig aussehender Mann. Es ist der Prinz Radziwill, ein Verwandter der königlichen Familie von Preußen, seine Großmutter war eine Nichte Friedrich’s des Großen und eine Schwester des bei Saalfeld gebliebenen Prinzen Louis Ferdinand. Aus einem danebenliegenden Coupé steigen noch ein Jäger und ein Lakai. Ersterer trägt eine dicht angefüllte grüne saffianene Vortragsmappe, Letzterer einen schwarzledernen Reisesack; dieser zeigt an, daß der Kaiser auf Babelsberg übernachten will. Auf der anderen Seite des Stationshäuschens sieht man einen offenen Wagen halten mit zwei hochgebauten schwarzen Trakehner Hengsten, die schon eine Weile gewartet haben und nun ungeduldig den Boden stampfen.

Schon nach kurzer Fahrt rollt der Wagen durch das Gitterthor des Babelsberger Parks. Dies ist eine Anlage, die erst in den letzten acht Jahren geschaffen wurde, aus Wiesen und Feldern, die den Einwohnern von Nowawes abgekauft wurden. Die Baumgruppen sind noch jung und haben sich noch nicht in jener üppigen Laubfülle entwickelt, in welcher sich die sanft vor uns ansteigende, von einem hochragenden gothischen Wachtthurme gekrönte Höhe zeigt; es waren, um diese Anpflanzungen zu schaffen, Tausende von ausgegrabenen älteren Bäumen von nah und fern herbeigeschafft und hier gepflanzt worden. Die Pflege derselben erforderte unendliche Sorgfalt und Mühe, viel Abbruch thaten der jungen Schöpfung die Winterfröste, und fast ein Drittheil starb aus, aber nun haben sie in dem nicht allzu fruchtbaren Boden Wurzel gefaßt und versprechen für die Zukunft ein tüchtiges Gedeihen. Mit prüfendem und wohlgefälligem Auge betrachtet der Kaiser die junge Anpflanzung, sie ist sein Werk, wie auch der See dort, über dessen Ränder Weiden und Eschen ihre langen Zweige in die helle, klare Fluth niedertauchen. Mit der vorspringenden Höhe, die von dem gothischen Wartthurm gekrönt wird, beginnt der eigentliche Babelsberg oder auch Babertsberg, wie er früher genannt wurde. Eigentlich existirten neun verschiedene Namenslesarten, bis dann endlich die Benennung „Babelsberg“ officiell festgestellt wurde, vielleicht um die bisherige Sprachverwirrung in Bezug auf den wahren Namen anzudeuten. Früher hatte dort eine Windmühle gestanden; der damalige Prinz von Preußen hatte sie im Jahre 1841 angekauft, mit der Berechtigung „zu mahlen, Brod zu backen und das Gebäck in der Stadt Potsdam zu verkaufen“, Gerechtsame, von denen aber der Besitzer es bisher nicht nöthig hatte Gebrauch zu machen. Im Jahre 1848 war die erwähnte Mühle abgebrannt, und die Brandruinen machten dem jetzigen Thurme Platz, der die kaiserliche Privatbesitzung nach Süden hin flankirt.

Wir begegnen auf diesem von der Natur so begünstigten, von sorgsamer Pflege so liebevoll unterhaltenen Fleckchen Erde zahlreichen Erinnerungen aus dem Leben des Kaisers. So ist dieser vor uns aufsteigende, aus Sandstein erbaute, runde Thurm, dessen Spitze von vier graziösen Eckthürmchen gekrönt wird, eine Copie des Eschenheimer Thurms in Frankfurt am Main und eine Erinnerung an die Zeiten, welche der Kaiser

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_246.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)