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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Wir nennen es Seele!“

„Ist es dasselbe? Es käme darauf an, es zu untersuchen. Und könnten wir das nicht? Gäbe es nicht ein vortreffliches Mittel dazu? Sie müßten mir verstatten, Ihnen mein Gemüth zu zeigen, und zeigten dagegen wieder ein klein wenig von Ihrer Seele – wir sähen dann bald …“

„O,“ unterbrach sie ihn lächelnd, „ein solcher Austausch würde doch nichts entscheiden – höchstens für Sie und mich …“

„Und wäre das nicht genug – ist es nöthig, daß es für die übrige Welt eine Bedeutung hätte? Ich kann Sie versichern, daß ich die übrige Welt sehr bald darüber vergessen würde, daß sie wie ein wesenloser Schatten hinter mir liegen würde, wenn …“

Valentine unterbrach seine leidenschaftlich geflüsterten Worte hier durch eine plötzliche Wendung, sie blickte nach ihrem Vater zurück, der jetzt eben rasch herankam, um sich wieder zu ihnen zu gesellen.

Weder Max noch Gaston fanden eine Schwierigkeit, den Plan, den sie gemacht, auszuführen; als Gaston nach dem Diner die Rede auf das Spiel brachte und Max andeutete, daß er es gern spiele, erfolgte Herrn d’Avelon’s Einladung zu einer Partie ganz mit dem Eifer, den Gaston vorhergesagt hatte, und nachdem der Chasse-Kaffee genommen, brachte ein Diener das Schachbrett herein. Man setzte sich dazu in den Salon. Valentine nahm unterdeß in demselben Raum an einem der Fenster Platz, mit einem Buche beschäftigt; doch blickte sie oft darüber fort, zumeist auf Miß Ellen; es entging ihr ein gewisses unruhiges Wesen in Miß Ellen nicht, die, bald mit diesem, bald mit jenem beschäftigt, von Zeit zu Zeit mit Gaston einen Blick des Einverständnisses zu wechseln schien. Endlich trat Miß Ellen in die Glasthür, wie um nach dem Wetter draußen auszuschauen; Gaston folgte ihr dahin und Beide gingen dann auf die bereits dämmernde Terrasse hinaus, wo sie wieder eifrig sprechend auf und ab gingen. Valentine war eigenthümlich beunruhigt durch die auffallende Veränderung im Betragen Gaston’s, der, ganz im Gegensatz zu seinem früheren Wesen, während des Diners die Höflichkeit selbst gegen Max gewesen war; so folgte sie mit Sorge dieser langen geheimen Zwiesprache: was hatte Gaston, was Ellen ihr zu verheimlichen? Wollte sich Gaston dennoch mit dem deutschen Officier schlagen, und dabei war Ellen die Vertraute dessen, was er ihrem Vater, was er ihr verbarg? Freilich, Gaston und Ellen hatten sich stets vortrefflich verstanden – daß sie verbrüdert waren durch dasselbe Ziel, dem sie zustrebten, daß auch Ellen nichts sehnlicher wünschte, als eine Wendung der Dinge, nach welcher sie die sehr gegründete Hoffnung hatte, die Herrin auf der Ferme des Auges zu werden, – das wußte Valentine!

Ihre Unruhe sollte steigen, als endlich Gaston wieder in den Salon kam und, nachdem er eine Weile den Spielenden zugesehen, lächelnd sagte: „Die deutsche Strategie auf dem Schachbrett ist nicht ganz so rasch wie die auf dem Schlachtfeld. Sie werden die Nacht hier bleiben müssen, wenn Sie Partie und Revanche nicht in schnellerem Tempo nehmen, Herr von Daveland.“

„Sie haben Recht, die Nacht bricht bereits ein und ich werde kaum Zeit haben, die Partie zu beenden!“ versetzte Max.

„Wie,“ rief d’Avelon aus, „glauben Sie, ich ließe Sie ziehen, bevor wir die Partie mit voller Muße beendet haben? Denken Sie nicht daran. Und wenn es Nacht darüber wird – was schadet es? Sie werden in der Ferme des Auges ganz ebenso gut schlafen wie in Ihrem Quartier in Void.“

„Nicht mit so ruhigem Gewissen,“ versetzte Max, „ich darf nicht ohne Meldung bei meinem gestrengen Compagniechef ausbleiben; ein so eigenmächtiger Quartierwechsel würde mir einen hübschen Verweis zuziehen, ja vielleicht gar eine Perspective auf das Kriegsgericht eröffnen.“

„Sie übertreiben. Senden Sie nur Ihren Burschen mit einer Meldung an Ihren Chef, das wird genügen. Denn in der That, von hier lass’ ich Sie nicht, bis wir gründlich unsere Kräfte gemessen haben, und darüber wird es freilich zu spät für Sie werden, um noch nach Void heimzukehren.“

„Wenn Sie mich in der That so hartnäckig gefangen halten, wird mir nichts Anderes übrig bleiben, als meinen Burschen mit einigen Zeilen an meinen Chef abzusenden, die ihn, wenn auch nicht ganz über meinen Mangel an Disciplin besänftigen, doch über den Grund meines Ausbleibens beruhigen können.“

Max erhob sich und Miß Ellen, die eben die Klingel gezogen, damit der Diener die Lampen hereintrage, brachte ihm sehr bereitwillig Schreibmaterialien herbei. Valentine beobachtete sie dabei und glaubte einen Zug von triumphirender Genugthuung in ihrem sonst so wenig beweglichen Gesicht zu lesen. Was sollte dies Alles? War es ein von ihr und Gaston abgekartetes Spiel, um Max über Nacht zu halten und – ihm irgend eine Schlinge zu legen? Es legte sich wie eine dunkle Ahnung auf Valentine; mit scheuen Blicken beobachtete sie jetzt ihren Vater – in seinen ruhigen Mienen spiegelte sich nichts als der ausschließliche Gedanke an sein Spiel, dessen Stand er, während Max schrieb, mit intensivem Interesse studirte; dann Gaston’s Züge, der wieder seine bedeutungsvollen Blicke mit Miß Ellen zu wechseln schien und dann von der Seite auf den schreibenden deutschen Officier schaute, mit einem Ausdruck in den leichtgerunzelten Brauen, der nichts Beruhigendes enthielt. Als Max fertig und nun gegangen war, um seinen Burschen mit dem Billet abzusenden, sagte Miß Ellen, sich ebenfalls zum Gehen wendend:

„Ich werde Auftrag geben, das kleine Fremdenzimmer für unseren Gast herzurichten.“

„Das neben dem Eßzimmer? Und weshalb nicht das bessere oben?“ fragte Valentine lebhaft,

„Weil das kleinere bequemer für ihn liegt, parterre, und er nicht nöthig hat, uns Alle zu stören wenn er morgen vielleicht in der Frühe schon heimkehren will. Auch sind oben die Vorhänge abgenommen und diesen Abend nicht mehr in Ordnung zu bringen.“

Dagegen ließ sich nichts einwenden, obwohl das kleine Fremdenzimmer sonst nur zur Aushülfe diente und sehr viel weniger Comfort bot, als das oben im Mansardenstock in der Reihe der übrigen Schlafzimmer liegende eigentliche Fremdenzimmer.

Max war auf eine gewisse Widersetzlichkeit bei seinem Burschen gestoßen, als er diesem aufgetragen, ohne ihn nach Void heimzukehren und dem Hauptmann Sontheim ein Billet zu überbringen. Der ehrliche Bursche hatte es bedenklich gefunden, seinen Herrn so ganz allein an einem Orte zurückzulassen, wo er, was seine persönlichen Beobachtungen anging, durchaus nicht auf Vertrauen erweckende Sympathien in Hof und Gesindestube gestoßen war, die ihm solch ein einsames Uebernachten in der Ferme des Auges vorsichtig und räthlich erscheinen ließen; aber Max, der zu seinem Spiel zurückzukommen eilte, schnitt seine Vorstellungen durch einen gemessenen Befehl ab, und Friedrich ging deshalb, sein Pferd aufzuzäumen.

Der Abend verging ruhig und ohne Zwischenfälle. Die beiden Spieler kamen zu einem für Herrn d’Avelon sehr befriedigenden Ende der ersten Partie – er hatte Max matt gesetzt und bedauerte nur, daß Gaston nicht mehr da sei, um Zeuge seines Sieges zu sein; Gaston hatte sich gleich nachher, nachdem Max seinen Burschen abgesandt, beurlaubt, um nach Givres heimzukehren. Während die Herren die Revanchepartie spielten, hatte Valentine sich an ein Fortepiano gesetzt und Max war mit dem größeren Theile seiner Aufmerksamkeit, die doch Herr d’Avelon mit seiner Gewandtheit und Ueberlegenheit so sehr in Anspruch nahm, bald nicht mehr bei dem Spiele seines Gegners, sondern dem des jungen Mädchens. Valentine spielte nur deutsche Musik … war es eine Freundlichkeit für Max? … jedenfalls spielte sie sie mit innigem Verständniß und großem Gefühl; Max konnte nicht anders als sich sagen, daß ihr Spiel eine ihm tief in’s Herz dringende Ueberzeugungskraft von der Identität deutschen „Gemüths“ und französischer „Seele“ habe – er fühlte sich von dem Strömen und Rauschen dieser Töne, in denen ihm eine Seele ihre Schwingen zu hohem Geistesfluge auseinander zu schlagen schien, in der tiefsten Tiefe seines Gemüths erfaßt.

Miß Ellen hatte eine Weile neben Valentine gestanden und ihr die Notenblätter umgewendet; dann, als ob diese deutsche Musik sie nicht mehr fessele, wandte sie sich ab und ging unruhig umher, um sich endlich mit einem Buche an die Lampe in der entferntesten Ecke des Salons niederzusetzen.

Max hatte darüber den einen Springer und kurz nachher auch seine Königin eingebüßt; es schlug auf der Pendule über dem Kamin eben elf Uhr, als Herr d’Avelon zum zweiten Male sein siegreiches „Matt!“ ausrief. Valentine erhob sich von ihrem Instrument und schaute Max mit einem wie dankbaren Lächeln an – er wußte noch nicht, wie sehr es zum Glücke des Hausherrn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_385.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)