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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Blätter und Blüthen.


Eine republikanische Kaiserburg. (Mit Abbildung.) Trotzdem unsere Abbildung auf S. 395 von der malerischesten Seite aufgefaßt ist, würde sie die Blicke des Lesers nur vorübergehend auf sich ziehen, wenn die Unterschrift nicht wäre; das Wort hat diesmal mehr Bedeutung als das Bild.

Habsburg! Wer denkt dabei an ein altes Mauerwerk auf einem Schweizerberge? Ein Stück Weltgeschichte thürmt sich vor uns auf, ein in mehr als halbtausendjährigem Glanze strahlendes Herrschergeschlecht steht vor uns in Europas Mitte – wir glauben es kaum, daß aus der unbedeutenden Burg auf dem Wülpelsberge bei Brugg an der Aar die Dynastie hervorgekommen sei, welche ihr großes Donaureich über die Völkersplitter von den drei Hauptstämmen Europas ausbreitete; wir müssen den Eichbaum mit der Eichel vergleichen, um das für möglich zu halten. Dennoch haben beide, die Burg und das Haus Habsburg, Verwandtes insofern, als beide den Blick auf eine reiche Vergangenheit hinlenken.

Man steigt von dem bekannten Bade Schinznach aus auf einem angenehmen Waldwege in etwa zwanzig Minuten zur Habsburg hinauf, deren Berg sich tausendsechshundertsiebenundzwanzig Fuß über die Meeresfläche erhebt. Droben findet man ein ebenso altes als einfaches Bauwerk, welches in einzelnen Theilen den Eindruck einer Ruine macht. Was von demselben noch gut erhalten ist, verdankt dies weniger der Sorgfalt der Menschen, als der außerordentlichen Festigkeit des Baues. So besteht u. A. der Thurm aus acht Fuß dicken Mauern, die aus unbehauenen Steinen aufgeführt und dicht von Epheu überwuchert sind. Die mittleren Zimmer des Schlosses sind noch benutzbar; einige derselben soll Rudolph, der Kaiser, noch als Graf bewohnt haben, wie man dem Fremden erzählt; sicherer ist, daß die Kaiser Joseph der Zweite 1777 und Franz der Erste 1815 auf der Burg waren und ersterer ein Steinchen aus einer Wand abbröckelte und als Andenken in die Tasche steckte.

Der Ausblick von der Habsburg ist beschränkt in das Land, aber bedeutend in die Geschichte. Dort im Nordosten, wo Aar und Limmat sich vereinigen, stand vor eintausendzweihundert Jahren die größte Niederlassung und Handelsstadt der Römer im alten Helvetien: Vindonissa. Die Ortschaften Brugg, Windisch, Altenburg, Königsfelden, Gäbisdorf und Hausen sind jetzt auf dem Raume zerstreut, welchen jene eine Stadt bedeckte, und Hunnen und Franken waren es, die sie noch vor dem Schlusse des sechsten Jahrhunderts völlig vom Boden vertilgt hatten. Und dort die Abtei Königsfelden, das fromme Denkmal der furchtbar blutigen Rache der Wittwe Kaiser Albrecht’s an dessen Mördern. Schloß Brunegg erinnert an den Landvoigt Geßler, dessen Söhne dort hausten. Freundlicher begrüßt uns Brugg, das „Prophetenstädtli“ genannt, weil die Reformation in den Bürgersöhnen eine seltsame Vorliebe für den geistlichen Stand erweckt hatte; und ebenso der Neuhof, wo Pestalozzi als Kinder- und Menschenfreund gewaltet; vor seinem Denkstein im Friedhofe in Birr vergißt man gern das Birrfeld, auf welchem Cäsar die Helvetier geschlagen. Auf dies Alles schaut man von der Habsburg hernieder, welche gegenwärtig der Sitz eines eidgenössischen Feuerwächters ist.

Feuerwächter sind leider auch die meisten Habsburger gewesen; sie haben so eifrig gewacht und durch Priesterschaft und Adel wachen lassen, daß das Feuer des Geistes von den Völkern Oesterreichs fern gehalten würde, bis aus Mangel an Licht und Wärme der Staatskörper erkrankte. Es ist traurig, wenn man von einem so regentenreichen Geschlechte die guten an den Fingern herzählen kann, ohne eine ganze Hand dazu zu bedürfen: Rudolph der Erste, Maximilian der Erste und der Zweite und Maria Theresia. Das ist Alles, was vom Hause Habsburg vor dem Richterstuhl der Geschichte besteht. Dann kommen die Lothringer, und gleich der erste derselben wird ewig seine Stelle im Herzen der Deutschen behalten: Joseph der Zweite. Mit ihm schließen wir die Reihe; die Lebenden deckt das Preßgesetz. – Aber Geschichte ist’s, daß die Feuerwacht vergeblich war, als von den Nachbarhäusern die Lohe das gekrönte Dach ergriff. Was ist in Oesterreich erlebt worden seit vierundzwanzig Jahren! Seitdem Metternich und sein System niedergeschmettert wurden auf einen constitutionellen Boden mit breitester demokratischer Grundlage – wie viel Rachegeister wurden da losgelassen von dem Arader Galgen und dem Sandhügel in der Brigittenau bis zu dem von Queretaro! Und wie Metternich das Jahr Achtundvierzig ertragen mußte, ohne sich an einem vollständigen Sieg der Reaction wieder erquicken zu können, so ist seinen gelehrigsten Schülern und Schülerinnen es nicht erspart worden, noch Deutschland frei von Oesterreich und geschmückt mit seiner eigenen Kaiserkrone zu sehen.

Die große Sendung der Habsburger als römische Kaiser deutscher Nation und als Herrscher des Donaureichs wäre es gewesen, Culturvermittler zwischen Deutschland und ihren östlichen Völkern und Völkerbruchtheilen zu sein und sie durch die Wohlthaten guter und freier staatlicher Einrichtungen an sich zu knüpfen. Sie befolgten in ihrer Mehrzahl den entgegengesetzten Grundsatz: Divide et impera! Theile und herrsche! Und nun die Saat des gegenseitigen Hasses der stärksten Reichsnationen aufgeht, sucht man vergeblich nach dem rettenden Wort, das die bösen Geister wieder bannen könnte. Möge es noch zu rechter Zeit gefunden werden! Das ist ein Wunsch aus deutschem Herzen, das auch dort der Kraft einer gesunden Cultur den Sieg wünschen muß. Gelingt dies nicht, so spricht das Schicksal sein Divide! und dann erlebt Europa den furchtbaren Anblick der Zerbröckelung eines so großen Reichs, das Staatsconglomerat löst sich in seine sich feindlich einander abstoßenden Bestandtheile auf, Verwandtes drängt sich Verwandtem zu und zur Wahrheit wird das Dichterwort:

Was gegen die Natur verbunden ist, zerfällt.
Das ist nicht Menschenthat: das ist Gesetz der Welt!

F. H.



Auf welche Weise in gegenwärtiger Zeit noch Wallfahrtsorte entstehen! In einem Städtchen mit ungefähr zweitausenddreihundert Menschen lebte im Jahre 1863 eine Frau (lebt wahrscheinlich noch) im Alter von beiläufig fünfzig Jahren, sie hieß Geyer; ihr war das kleine Amt einer Zolleinnehmerin anvertraut. Um diesem Geschäfte pünktlich nachkommen zu können, hatte sie im Rathhause, welches in Mitte des Ortes auf einen freien Platz gebaut war, zu ebener Erde ein Stübchen, von dem aus sie alle herankommenden Fuhrwerke, die das Städtchen passirten, sehen und anrufen konnte. Damit aber auch kein Zollpflichtiger durch zu rasches Fahren oder kein Bäuerlein durch wirkliche oder nur angenommene Taubheit sich seiner Schuldigkeit entzog, mußte die Frau viel auf der Straße sein, oft laut und anhaltend rufen; besonders an den Tagen, an welchen Märkte abgehalten wurden, war diese ihre Thätigkeit in hohem Grade erforderlich; dabei hatte sie sich eine große Gewandtheit angeeignet, war unerschöpflich im Auffinden und in der Anwendung neuer Worte und Benennungen, womit sie die Vorüberfahrenden zum Zahlen aufforderte. Kein Wunder, daß bei diesem Amte ihre Kehle oft trocken wurde, Wasser schien nicht die hier nothwendige Hülfe zu bringen, und so war die Frau gezwungen, zu geistigen Getränken ihre Zuflucht zu nehmen. Die bösen Zungen, die ja selbst in einem kleinen Städtchen nicht fehlen, wollten behaupten, daß weniger die Geyer selbst, als eben die genossenen Getränke die Schuld trugen, wenn sie zuweilen das Gleichgewicht ihres Körpers nicht finden konnte.

Eines Morgens nun wurden die Bewohner des Städtchens mit der Nachricht überrascht, daß in vergangener Nacht der „Geyerin“ die Jungfrau Maria erschienen sei. Die Frau erzählte denn Allen, welche sie nur anhören wollten, daß ihr geträumt, sie wäre gestorben, dabei hätte sie große Angst und Furcht ausgestanden, alle ihre Sünden seien ihr eingefallen, wie sie vor die Himmelsthür gekommen, hätte sie diese auch richtig verschlossen gefunden, auf kein Bitten und Flehen hätte sich dieselbe geöffnet, da in ihrer größten Noth sei die Jungfrau Maria in all ihrer überirdischen Schönheit ihr erschienen. Der hätte sie nun ihren Jammer geklagt, allein auch diese wußte keinen Trost, hielt ihr im Gegentheil auf’s Strengste ihre Sünden vor. Erst nach langem und inbrünstigem Flehen erklärte die Jungfrau Maria, ihr helfen zu wollen. Aber nun sei die Frage entstanden, wie und auf welche Weise die Hülfe gebracht werden könne, da habe sich denn kein anderer Ausweg gezeigt, als daß die Jungfrau Maria sich für die Sünden der Geyerin auf drei Jahre in einen Eichbaum sperren lasse, nach dieser Zeit würden sie gesühnt sein.

Noch erfüllt von Dank für diese Gnade, war die Frau erwacht, und nun war ihr einziger Gedanke, den Eichbaum, in dem Maria für sie die Sünden abbüße, zu finden. Nachmittags zog zu diesem Zweck eine kleine gläubige Schaar in den nahen Wald, und wirklich konnte, o Wunder, die Geyer unter den dort gerade nicht seltenen Eichbäumen gerade den angeben, in welchem die Maria sich für sie befand. Derselbe wurde nun durch Anheftung verschiedener Heiligenbilder bezeichnet und bildete von diesem Tage an für viele Bewohner des Städtchens und der Umgegend einen Gegenstand der Verehrung und Anbetung. Fast täglich wurden kleine Wallfahrten in Begleitung eines Vorbeters dahin gemacht, und wer es nicht glauben wollte, welche Wunderkraft diesem Baume zugeschrieben wurde, der konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, denn an demselben waren eine Menge von gemalten oder in Wachs formirten Beinen, Armen, Händen, Herzen etc. angebracht, welche bezeugten, wie viele Bittende hier Hülfe suchten. Es entstand um den Baum nach und nach eine Capelle. Die Capuziner, welche nahe dem Städtchen ein Kloster inne hatten, unterstützten diese Wallfahrten, sollen sie auch begleitet haben; der Geistliche des Ortes that wohl nichts dafür, ob etwas dagegen? – Thatsache ist, daß dieser Baum nun seine Capelle hat, und wer wird wohl in dreißig bis vierzig Jahren noch ungeschminkt und wahr die einfache Entstehung jener wunderthätigen Capelle kennen? Wie viel des Wunderbaren mag dann erzählt werden, daß man bei solchen Vorkommnissen unwillkürlich fragen muß, ob nicht viele der berühmten Wallfahrtsorte eine ähnliche, dem verwandte Geschichte haben mögen.

Im Gebirge, im Walde, auf einsamer Haide, da, wo weder Eisenbahn noch sonst ein lebhafter Verkehr Menschen mit Menschen verbindet, wohin das Licht der Aufklärung noch nicht gedrungen, da glaubt gewiß der Leser den Schauplatz jener Begebenheit suchen zu müssen, aber nein – das Städtchen, in welchem die Frau Geyer geträumt, heißt Karlstadt, liegt zwei Stunden von Würzburg in Unterfranken, hart an der Bahn nach Frankfurt, und der Eichbaum mit der Capelle steht eine halbe Stunde davon im Walde von Mühlbach.





Friedrich Gerstäcker, der treueste Freund und Mitarbeiter der Gartenlaube, ist, wie eben am Schlusse dieser Nummer uns telegraphisch gemeldet wird, am Morgen des 31. Mai in Braunschweig nach kurzem Krankenlager gestorben. Es sind nur wenige Wochen, wo er in unserer Redaction als ein Bild markiger Gesundheit vor uns stand und es uns als eine noch zu bewahrende Heimlichkeit vertraute, daß er nächstens wieder eine große Reise, eine größere, als alle seine früheren Reisen, antreten werde. War er sein eigener Todesprophet? Die große Reise – sie ist vollendet und zur Wahrheit wird an ihm, was der Wahlspruch seines Siegels sagt: „Rast’ ich, so rost’ ich!“ Friedrich Gerstäcker hat uns so nahe gestanden, daß wir nicht mit dieser Notiz von ihm in der Gartenlaube scheiden können; eine Darstellung seines Gesammtwirkens als Schriftsteller und Mann soll, seinem Bildniß (Jahrgang 1870, S. 245) nachgetragen, seiner gerechten Würdigung und seinem getreuen Andenken gewidmet sein.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_398.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)