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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Ehrenrettung des Schmerzes.


Der Schmerz als Freund. – Der Schmerz als Wächter der Gesundheit. – Der Schmerz bei Kindern. In Knie- und Hüftgelenken. – Gesichtsschmerzen. – Die Nerven als Vermittler der Schmerzempfindung. – Wahrnehmungsfähigkeit des Gehirns.


Von Ewald Hecker.


Es ist eine nicht selten zu beobachtende Thatsache, daß der Mensch in angeborener Kurzsichtigkeit seine besten Freunde nicht kennt oder gar als Feinde ansieht, und schon oft hat gerade der Naturforscher seine warnende Stimme erheben müssen, um der Ausrottung so mancher Geschöpfe Einhalt zu thun, die der Mensch in blindem Hasse zu vernichten trachtet, obwohl er ihnen zu größtem Danke verpflichtet wäre. Ich erinnere nur an den Maulwurf, die Kröte, den Igel etc.

Auch in Folgendem soll von solch einem Freunde die Rede sein, der unzählig oft verkannt und geschmäht wird und doch unsern Dank verdiente: ich will eine Ehrenrettung des Schmerzes übernehmen und den Nachweis versuchen, daß wir in der That in ihm einen Freund erkennen müssen, der nur in liebevollster Absicht uns verwundet, um uns zu warnen, uns zu helfen. Nicht genug, daß er den zum vollen Bewußtsein unseres Glückes so nothwendigen Gegensatz bildet und uns die Güter, die wir besitzen, erst dadurch in ihrem wahren Werthe zeigt, daß er sie uns eine Zeit lang entbehren ließ; – sein Hauptstreben geht dahin, uns das höchste Gut, die Gesundheit, zu erhalten. Der Schmerz ist der Wächter unserer Gesundheit.

Es ist nicht auszudenken, in wie viel tausend Schädlichkeiten wir uns täglich, stündlich begeben würden, in wie viele Gefahren wir unseren Körper brächten, wenn nicht der Schmerz als ein ernster Warner und Mahner uns zur Seite stünde. Wie oft hätten wir unsere Hand schon an dem heißen Ofen verbrannt, wenn nicht der Schmerz mahnte, sie schnell zurückzuziehen; wie oft würden wir die Glieder erfrieren, wenn nicht der Schmerz uns die Kälte zum Bewußtsein brächte und zu Vorsichtsmaßregeln veranlaßte. Ja, wir würden sogar verhungern, wenn nicht das Schmerzgefühl des Hungers uns antriebe, Nahrung zu suchen. Soll ich noch weitere Beispiele anführen? Tausendfach drängen sie sich auf, und daß ich dabei nicht übertreibe, lehrt die traurige Erfahrung solcher Fälle, wo durch Nervenlähmung einem Theil des Körpers die Schmerzempfindung geraubt ist. Nicht selten ist es vorgekommen, daß solche unglückliche Kranke sich arglos mit dem Rücken an den glühenden Ofen stellten und bei lebendigem Leibe anfingen zu verkohlen, ohne es auch nur im Geringsten zu verspüren. Erst der brenzliche Geruch machte sie auf das geschehene Unglück aufmerksam, in Folge dessen sie ein Opfer des Todes wurden.

Gar oft ist der Schmerz auch für den Arzt ein wichtiges, nicht selten das einzige Mittel zur richtigen Beurtheilung einer Krankheit und zur Erkenntniß der Behandlung, die er dabei anwenden muß. Der Sitz des Schmerzes, die Art seines Auftretens, seine Heftigkeit und Dauer geben bedeutungsvolle Winke über die Art und den zuweilen verborgenen Sitz der Verletzung, und von der richtigen Beurtheilung dieser Verhältnisse hängt ja nicht selten das Leben des Kranken oder wenigstens seine Genesung ab. Bei Kindern sind wir in vielen Fällen allein auf die Aeußerungen ihres Schmerzes angewiesen, und nur diese geben uns den leitenden Faden an die Hand, mit deren Hülfe wir uns in dem Labyrinth der vorliegenden Krankheitsmöglichkeiten zurechtfinden können. Dasselbe gilt auch für bewußtlose Kranke. Die Art und Weise ihres Gebahrens, die Art, wie sie ihre Glieder bewegen, um unwillkürlich die am wenigsten schmerzverursachende Lage einzunehmen, hilft uns den Ort der Verletzung auffinden. Wenn Kinder in der Periode des Zahnens sich oft mit den Fingerchen in den Mund fassen, so macht die besorgte Mutter leicht den beruhigenden Schluß, daß der beginnende Zahndurchbruch dem Kleinen Schmerzen bereite; wenn dagegen das Kind mit lautem, durchdringendem Schrei oft aus dem Schlafe auffährt und häufig unter Seufzen und mit stierem Blick mit dem Händchen nach dem Kopfe greift, so stellt sich die schreckliche Furcht vor einer drohenden Gehirnentzündung mit leider allzu sicherer Berechtigung ein.

Nicht immer freilich sind die Schmerzen ein Maßstab für die Schwere des Leidens. Eine große Zahl nicht minder gefährlicher Krankheiten kündigt sich nicht durch Schmerzen an, und der Wurm, der an der Gesundheit und am Leben frißt, nagt im Verborgenen. Zuweilen könnten wir sogar durch den Ort der Schmerzempfindung über den eigentlichen Sitz des Leidens getäuscht werden, wenn nicht andere Symptome und die Erfahrung uns bei der Diagnose leiteten. Besonders eine Krankheit, die gerade unter Kindern so viel Verderben und Unheil anrichtet, giebt bei ihrem ersten Entstehen oft Veranlassung zu unrichtiger Auffassung. Ich meine das sogenannte freiwillige Hinken, ein Leiden, das auf einer schweren, entzündlichen Erkrankung des Hüftgelenks beruht und meist mit Zerstörung und Verkrüppelung desselben, gar oft auch mit dem Tode endet. Die Kinder fangen an, über einen ganz leichten Schmerz im Kniegelenk zu klagen, der meist von der Umgebung deshalb wenig beachtet wird, weil er sich im Laufe des Tages immer wieder verliert. Die Schmerzen steigern sich jedoch und sind namentlich des Morgens, wenn das Kind aufstehen will, so heftig, daß es an dem Gebrauch des Beines verhindert ist und beim Gehen hinkt. Aeußerlich ist am Knie nicht das Geringste wahrzunehmen; doch man glaubt, das Kind sei vielleicht gefallen, und macht kalte Umschläge – die natürlich nicht helfen können – denn unterdessen geht nicht im Knie-, sondern im Hüftgelenk der schleichende Entzündungsproceß vor sich, der solche verderblichen Folgen nach sich zieht.

In diesen Fällen ist es die Aufgabe des Arztes, durch die objective Untersuchung, das heißt durch vorsichtiges Betasten und Drücken die wirklich schmerzhaften Stellen genau ausfindig zu machen. Nur so läßt sich sehr oft ein bis dahin unbestimmt empfundener Schmerz genau feststellen. Die Beschränkung des Schmerzes auf ganz bestimmte Stellen, die wir auf diese Weise vorsichtig prüfen, giebt zum Beispiel bei Knochenbrüchen ein sehr werthvolles Hülfsmittel zur Unterscheidung von anderweitigen Verletzungen, die den Knochen selbst nicht betroffen haben. Umgekehrt zeigt eine bestimmte Verbreitungsweise des Schmerzes, wenn er den peripheren Ausbreitungen eines einzelnen Nerven folgt, oft genau die Stelle an, an welcher wir eine Verletzung dieses Nerven zu vermuthen haben. –

Nicht selten kommt zum Beispiel der Fall vor, daß wir den Ort der Reizung des Nervenstammes gerade in der Strecke seines Verlaufs erschließen können, wo derselbe durch einen Knochencanal hindurchgeht, sei es nun, daß der Knochen an dem Orte entzündlich geschwollen ist oder daß eine Neubildung (eine nicht entzündliche Geschwulst oder Verdickung) gerade da auf den Nerven drückt. Schon Mancher, der aus diesem Grunde an den wüthendsten Gesicht- und Zahnschmerzen litt, die, aller Behandlung trotzend, ihn an den Rand der Verzweiflung brachten, hat dadurch Heilung oder Linderung gefunden, daß der einsichtige Arzt mit sicherer Hand den Knochencanal, in dem der Nerv innerhalb des Unterkiefers verläuft, öffnete, den Nerv durchschnitt und so die Quelle des Schmerzes aufhob. Dasselbe Leiden des furchtbaren Gesichtsschmerzes (Tic douloureux) hat aber in nicht seltenen Fällen eine ganz andere Entstehungsursache, die sich aus der Art des Auftretens erschließen läßt. Sucht nämlich dieser Schmerz in ganz bestimmten Zwischenräumen jedes zu ein und derselben Tageszeit den Kranken heim, so deutet dieses typische Auftreten oft auf eine Vergiftung mit sogenannter malaria (oder Sumpfmiasma) hin. Dieser Seuchestoff erzeugt für gewöhnlich das sogenannte kalte oder Wechselfieber; es kommt aber vor, daß dieses Fieber, wie die Aerzte sagen, sich maskirt und in der Gestalt von Neuralgien oder Nervenschmerzen auftritt. Bestätigt sich diese Vermuthung in einem vorliegenden Falle, so kann der unglückliche Kranke, nachdem alle nur erdenklichen Mittel bis dahin vergeblich angewendet wurden, oft schnell und sicher durch eine Gabe Chinin von seinem schrecklichen Leiden befreit werden. –

Es ist aus diesen Beispielen ersichtlich, welche Bedeutung der Schmerz für die Beurtheilung eines Leidens und seine richtige Behandlung hat. Ebenso leuchtet es aber auch ein, daß wir nur dann im Stande sind, aus dem Ort und der Aeußerungsweise des Schmerzes die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn wir uns mit der Natur desselben und seiner Entstehungsweise vertraut gemacht haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_408.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)