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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 31.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


1.


„Ich will Sie nicht weiter bemühen, ich finde schon, was ich suche.“

Die Küsterfrau blickte den Herrn ein wenig verwundert an und dann auf das Bund großer Schlüssel, welches in der Thür hing, die sie soeben für den Fremden aufgeschlossen.

„Ja so,“ sagte der Fremde; „nun, das braucht Sie nicht zu beunruhigen; ich werde nicht lange bleiben, und hier ist etwas für Ihre Mühe.“

Er drückte der Frau ein Geldstück in die Hand und wandte sich nach der Thür.

„Der Herr Pastor hat streng verboten,“ sagte die Frau.

„Er wird nichts einzuwenden haben,“ erwiderte der Fremde. „Ich werde ihm ein paar Worte zurücklassen.“

Er nahm sein Portefeuille und schrieb einige Zeilen. Als er das Blatt loslöste, gewahrte er, daß auf der andern Seite eine kleine Skizze stand, die er heute Nachmittag, während sein Fuhrwerk vor einer Dorfschenke hielt, mit ein paar Strichen hingeworfen.

Ein flüchtiges Lächeln zog über sein ernstes Gesicht.

„Das geht doch nicht,“ murmelte er, „und statt eines Pferdefußes sogar acht. Und hier wieder – Alles vollgekritzelt. Nun, es thut nichts,“ sagte er laut, indem er das Portefeuille wieder in die Tasche steckte, „ich schreibe dann von P. aus. Bitte, sagen Sie ihm das; adieu, liebe Frau.“

Die Küsterfrau wagte nichts zu erwidern und wandte sich zu gehen. Der Fremde schaute ihr ein paar Augenblicke nach. „Sonderbar,“ murmelte er, „als ob ich ein Sacrileg beginge, wenn ich an diesem Ort meinen Namen laut nennte! War es mir doch schon eine Erleichterung, daß diese Frau mich nicht kannte. Wie wir doch Alle in dem Bann dunkler Gefühle sind, die wir vor Anderen einzugestehen uns schämen würden! Freilich, es ist kein Wunder, wenn diese Empfindungen mich hier schier allmächtig überkommen; hier, wo meine Heimath sein sollte; hier, wo meine Wiege stand, und wohin ich doch nicht wiederkehren durfte, als bis sich das Grab geschlossen über dem, der mir zum Leben verhalf.“

Er hatte ein paar leise Schritte in die Kirche hineingethan und schaute sich jetzt, stehen bleibend, in dem kleinen Raume um. Durch die runden, bleigefaßten Scheiben der hohen, schmalen Fenster sandte die bereits tiefstehende Sonne ein seltsames Licht herein, das bald stärker, bald schwächer wurde, je nachdem der laue Wind die Zweige der uralten Linde draußen an der Kirchenmauer hob oder senkte. Und so, bald heller, bald dunkler, aber immer trübe, zogen die Erinnerungen seiner Jugendjahre durch die Seele des Fremden, während er regungslos dastand und sein Auge über die dicken weißgetünchten Mauern und die paar braunen Bilder schweifte, die in allzugroßer Höhe hier und da herumhingen, und über die kleine Empore aus Eichenholz, das die Zeit schwarz gemacht hatte, und den Altar mit den beiden großen messingenen Armleuchtern, und die Kanzel, deren Pult mit einer zerrissenen Decke behängt war. – Es war Alles so wie damals; selbst der Löcher in der Decke erinnerte er sich noch, nur Alles so viel kleiner, dürftiger, geschmackloser, als es in der Erinnerung gestanden. Und doch war es jetzt noch die günstigste Beleuchtung – was war es im hellen Tageslicht! Und seine dürftige, traurige Kindheit, was war sie, wenn er das Zauberlicht der Erinnerung auslöschte, wenn er sie sah, wie sie wirklich war, wie sie ihm, dem so früh der Mutterliebe Beraubten, ein kalter, fanatischer Vater gemacht hatte!

Der Wanderer fuhr aus seinen Träumen empor, als jetzt ein scharfer Ton durch den satten Raum hallte, wie wenn etwas entzweibräche. Es war das Werk, das zum Schlagen aushob. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, zählte mechanisch die Schläge und horchte noch auf den dröhnenden Nachklang, bis das leiseste Summen verklungen war. – „Sieben Uhr,“ sagte er; „es ist Zeit, daß ich wieder aufbreche.“

Er schritt hinter den Bänken herum, nach einer Beiseite, rechts neben der Kanzel, bis er an die große eiserne Thür der Krypta gelangte. Die Thür war jetzt verschlossen. Aber rechts und links neben derselben waren an der Wand die Grabsteine der Prediger von Rammin, die dort oben auf der Kanzel das Evangelium verkündet hatten über den Särgen ihrer Vorgänger, zu denen auch sie eines Tages sich gesellen sollten. Er trat an den letzten Stein und las die Aufschrift, daß hier in Gott ruhe der Dr. theol. Gotthold Ephraim Weber, seit 1805 Prediger an der St. Marienkirche zu Rammin, geboren am 3. August 1780, gestorben am 15. Juni 1833.

„Gotthold Ephraim Weber,“ murmelte der Wanderer, „so heiße auch ich, und bin ja auch Doctor der Theologie. Und daß ich nicht bleiben wollte, wozu mich der Vater bestimmt, daß ich sein und werden wollte, wozu mich nach meinem besten Wissen und Gewissen die Mutter geboren, das hat ihn, der dort unten ruht, und mich auseinandergebracht. Nein, nein, nicht das, oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_495.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)