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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Pension sich befindet, liegt das Grütli, jene heilige Wiese, auf der in der ewig denkwürdigen Nacht vom zum 7. zum 8. November 1307 die Gründer der Schweizer Freiheit, der wackere Stauffacher, der kluge Walter Fürst und der feurige Arnold von Melchthal mit ihren Freunden den ewigen Bund beschworen, und nicht weit davon entfernt ragt aus der grünen Fluth der Mythenstein hervor, eine natürliche Felsensäule mit der schönen Inschrift: „Dem Sänger Tell’s, Friedrich Schiller. Die Urcantone 1860.“ Gegenüber liegt Brunnen, eine Perle des Vierwaldstädter Sees, mit entzückender Aussicht, weiterhin Gersau, einst das Eldorado aller Bettler, Vagabunden und Heimathslosen der Umgegend, die hier ihre berüchtigte Kirchweih, die sogenannte „Gauner-Kilbi“, feierten, jetzt ein wohlhabender und gewerbfleißiger Ort, auf dem entgegengesetzten Ufer das gemüthliche Bekkenried mit seinen alten, prächtigen Nußbäumen, endlich das idyllische Wäggis und das in neuester Zeit schnell aufblühende Vitzenau, von wo die wirklich märchenhafte Eisenbahn auf den Rigi führt.

Hotel de la Prosa, Güterhaus und Hospiz auf dem St. Gotthard.

Die untergehende Sonne beleuchtete mit ihren goldenen Strahlen das amphitheatralisch aus dem See auftauchende Luzern mit seinen grauen Thürmen, weißen Villen, prächtigen Kirchen und großartigen Hôtels, als wir an dem schönen Quai landeten. Rigi und Pilatus, die beiden Riesenwächter, begrüßten uns freundlich als alte Bekannte, und aus der Ferne glänzten die Spitzen der Berner Alpen, während der See zu unsern Füßen und die Wolken am Himmel rosig erglühten, bis die eintretende Dämmerung und unsere Müdigkeit dem entzückenden Anblick ein Ende machten und uns daran erinnerten, eine Wohnung zu suchen, die bei der Ueberfüllung mit Fremden nicht so leicht zu finden war. Am nächsten Morgen statteten wir nur dem „sterbenden Löwen“ Thorwaldsen unsern pflichtschuldigen Besuch ab, da wir Luzern und seine Umgebung bereits hinlänglich kannten. – Ein niedlicher Einspänner, für den der Kutscher fünfzig Franken forderte, aber schließlich dreißig nahm, sollte uns über den Brünig nach Brienz bringen, von wo wir nach Interlaken wandern wollten. Die Fahrt an dem Ufer des Sees entlang gewährte uns nach der gestrigen Anstrengung ein doppeltes Vergnügen; mit unaussprechlichem Behagen lehnten wir uns in die weichen Kissen und ließen an unseren Augen die wirklich bezaubernden Bilder wie in einem Kaleidoskop vorüberziehn, bald ein Stück des schimmernden Sees, bald eine malerische, in Bäumen und Reben versteckte Hütte, bald einen grotesken Felsen oder eine grüne Matte.

Unser Kutscher, der beiläufig den Exkaiser Napoleon und Eugenie bei ihrer Reise durch die Schweiz gefahren hatte, machte in Sarnen Halt, um die Pferde zu füttern und zugleich sich selbst mit einem Glase Wein zu stärken. Wir benutzten die Pause, um uns in dem ansehnlichen Ort etwas umzuschauen. Die schönsten Gebäude waren Nonnen- und Mönchsklöster oder geistliche Erziehungsanstalten des hier ganz ultramontanen Klerus. Einen freundlichen Eindruck machten das schöne, mitten in einem Garten gelegene Waisenhaus und das neue stattliche Spital mit der Inschrift: „Christo in pauperibus,“ die selbst einer großen Stadt zur Ehre gereichen würden. Am Ausgange des Dorfes sahen wir den Hügel, auf dem einst das Schloß des gefürchteten Landvogts Landenberg stand. Jetzt werden auf derselben Stelle, wo einst der Tyrann hauste, die Volksversammlungen des Cantons Obwalden abgehalten, wobei es mitunter um so freier zugehen soll.


(Schluß folgt.)




Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


4.


„Ich bitte tausend und tausendmal um Entschuldigung,“ rief Frau Wollnow noch auf der Thürschwelle.

„Macht zweitausend,“ sagte ihr Gatte, der sich zugleich mit Gotthold erhoben hatte, ihr entgegenzugehen.

„Du sollst mir nicht immer Alles nachrechnen, Du böser Mann.“

„Aber Alles nachsehen –“

„Und mich nicht immer unterbrechen, und mich um meine schönsten Reden bringen, ich hatte mir die allerschönste an unsern lieben Gast ausgedacht.“

„Fing sie vielleicht mit ‚guten Abend‘ an?“

„Nun ja: guten Abend! und willkommen, herzlich willkommen,“ sagte Frau Wollnow, Gotthold die beiden fetten kleinen Hände entgegenstreckend, und mit heller Neugier aus den braunen Augen zu ihm emporblickend. „Gott, wie Sie noch gewachsen sind, und wie Sie sich embellirt haben!“

Gotthold konnte das Compliment nicht zurückgeben. Ottilie Blaustein schien ihm, seitdem er sie nicht gesehen, allerdings sehr viel stärker, aber weder größer noch schöner geworden. Indessen das volle und etwas geröthete Gesicht strahlte von Gutmüthigkeit und Lebenslust; und so wurde es ihm keineswegs schwer, die herzliche Begrüßung der Jugendbekanntin nicht minder herzlich zu erwidern. Sie ersuchte die Herren, wieder Platz zu nehmen; sie würde, mit ihrer Erlaubniß, sich zu ihnen setzen, und bäte auch um ein Glas, denn sie habe heute Abend so viel reden müssen, daß sie ganz verdürstet sei. Dann sprang sie alsbald wieder auf und fragte an dem Ohr ihres Gatten im halben Flüsterton, ob

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_559.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)