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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Seiten umrahmten, im Abendschein glühten. Das Fensterchen der Giebelstube schimmerte und blitzte in dem Scheine. Gotthold konnte den Blick kaum abwenden; er meinte, es müsse sich jeden Moment öffnen und sie in dem Rahmen erscheinen und ihm mit der weißen Hand drohen: nicht näher! um Gotteswillen nicht! Und dann war ihm wieder wie damals, wenn er mit Curt auf einen köstlichen Sonnabendnachmittag und wundervollen Sonntag herauskam und sie in der Ungeduld, an’s Ziel zu gelangen, die letzte Strecke im Laufe zurücklegten. Seine Erregung wuchs mit jedem Schritte; er hörte kaum noch, was sein Begleiter sagte.

Aber Karl Brandow sprach in diesem Augenblicke auch nur, um die Sorge, die ihn drückte, vor seinem Gaste zu verbergen. – Hätte er sie nicht doch lieber mit seinem Vorhaben bekannt machen sollen, auf die Gefahr hin, ihren Widerspruch herauszufordern, oder, schlimmer noch, ihr dadurch eine Freude zu bereiten? Hätte er nicht wenigstens die letzte Gelegenheit benutzen und sie durch Hinrich auf den Besuch vorbereiten müssen, anstatt dem Hinrich noch ausdrücklich Schweigen anzubefehlen? Oder würde der kluge Mensch wieder einmal, wie schon so oft, nach seinem Kopfe gehandelt und eine verfahrene Sache in das rechte Geleis gebracht haben? Und doch, was konnte geschehen, wenn er plötzlich mit ihm vor sie hintrat? Würde sie ihn, angesichts ihres Gastes, Lügen strafen? sagen, sie habe von nichts gewußt und ihr Mann habe die Unwahrheit gesprochen? Es war ja auch das bei ihr möglich; aber wehe ihr, wenn sie es that!

„Da wären wir!“ sagte Karl Brandow, als sie jetzt unter den alten Linden vor der Hausthür anlangten. „Willkommen auf Dollan! nochmals willkommen!“

Er hatte es sehr laut gesagt, halb in die offene Hausthür hinein, und rief jetzt mit der ganzen Kraft seiner helltönenden Stimme über den stillen Hof: „Hinrich, Fritz! – wo steckt denn das Volk?“

Aber im Hause regte sich nichts, und im Hofe zeigte sich Niemand.

„Das ist nun so am Sonntag nicht anders,“ sagte Brandow. „Da läuft Alles wild, und zumal, wenn der Herr vom Hause ist. Rike! Hinrich! Fritz!“

Ein halbwüchsiger Bursche in schmutziger rother Weste und in Stulpenstiefeln kam jetzt über den Hof gelaufen und in demselben Augenblicke trat auch eine junge Magd aus dem Hause. Brandow empfing Beide mit scheltenden Worten. Die Magd sagte schnippisch: sie sei bei der Frau gewesen, die das Kind gar nicht beruhigen könne, das immer noch über den Arm weine; und der Bursche brummte, indem er das Pferd am Zügel ergriff: er habe dem Hinrich bei dem Brownlock helfen müssen, der wohl die Kolik bekommen werde.

„Da schlage das Wetter d’rein!“ rief Brandow; „der verdammte Hinrich, das habe ich nun davon! Ich muß Dich einen Augenblick allein lassen, oder willst Du mitkommen?“

Brandow wartete Gotthold’s Antwort nicht ab, sondern eilte mit langen Schritten über den Hof. Er mußte wissen, was das mit dem Brownlock war. Und dann: Cäcilie hatte in der Kinderstube zu thun; sie würde sicher nicht sogleich erscheinen.

„Was ist es mit dem Kinde?“ fragte Gotthold.

„Sie ist gefallen, just als die Frau nach Hause kam, und hat sich ja wohl den Arm gebrochen,“ sagte das Mädchen, das den Fremden mit einem neugierigen Blick ihrer lüsternen grauen Augen gestreift hatte und jetzt wieder geschäftig in’s Haus eilte.




10.


Gotthold folgte ihr auf den Hausflur und in die Wohnstube linker Hand und wäre ihr gern in das Nebenzimmer gefolgt, aus welchem, als das Mädchen die Thür öffnete und wieder schloß, das Wimmern eines Kindes und die Stimme einer Frau ertönte, die dem Kinde zusprach. Es war ihre Stimme – etwas tiefer und sanfter, däuchte ihm, als damals; aber er hatte nur ein paar Laute vernommen vor dem Weinen des Kindes.

„Armes Kind,“ murmelte er, „armes Kind, wenn ich ihr helfen dürfte!“

Seine Hand streckte sich nach dem Griff der Thür, aber sank alsbald wieder herab. Wenn das Mädchen gesagt hatte, daß er da war, würde sie ja wohl für einen Moment heraustreten; auf jeden Fall mußte ja Karl bald zurückkommen.

Er stellte sich an das offene Fenster und sah über den leeren Hof nach dem Gebäude hinüber, in welches Brandow gegangen war. Wie konnte er nur so lange bleiben! Er wandte sich wieder in das Zimmer, in welchem es bereits zu dunkeln begann, und seine Blicke schweiften mechanisch über die Bilder und Möbel, von denen er manche noch zu kennen glaubte, während sein Ohr gespannt nach dem Nebenzimmer lauschte. Aber dort war es jetzt still geworden, ganz still, und in der Stille tickte die alte Schwarzwälderuhr so laut – er hatte sie vorhin nicht gehört –, der Abendwind flüsterte in den Linden vor dem Fenster, und dann hörte er wieder nichts, als das Sieden seines Blutes in den Schläfen.

War ein Unglück geschehen? war das Kind – er mußte Gewißheit haben.

Aber als er den Fuß hob, öffnete sich die Thür und Cäcilie trat herein. Das Mädchen hatte ihr nichts gesagt von dem Fremden; sie kam, ein Stück Leinwand aus dem Nähkorbe zu holen, der in dem einen der beiden Fenster stand. Der Schatten des breiten Spiegelpfeilers fiel dicht über Gotthold; sie sah ihn nicht, sie war, den Blick auf das hellere Fenster gerichtet, bis unmittelbar in seine Nähe gekommen, als sie plötzlich stehen blieb, erschrocken beide Hände zu der dunkeln Gestalt hebend. Das Abendlicht fiel in ihr blasses Gesicht, aus dem die großen dunkeln Augen seltsam gläsern stierten.

„Ich bin es, Cäcilie!“

„Gotthold!“

Er wußte nicht, daß er die Arme ausgebreitet; er hätte im nächsten Momente nicht mehr sagen können, ob sie wirklich an seiner Brust gelegen. Als er wieder zu sich kam, stand er an ihrer Seite neben dem Bettchen des Kindes.

„Das Mädchen hat mit Gretchen gespielt, kurz bevor wir zurückkamen – sie ist gefallen, den Arm unter sich; ich meinte, sie habe sich nur eben wehe gethan; aber es ist schlimmer und schlimmer geworden, sie kann den Arm nicht mehr bewegen und weint bei der leisesten Berührung; ich glaube, sie hat ihn gebrochen, hier über dem Gelenk.“

Gotthold hatte sich über das Kind gebeugt, das ihn groß, aber nicht ängstlich ansah. Er glaubte in Cäciliens Augen zu blicken.

„Bist Du ein neuer Doctor?“ sagte das Kind.

„Nein, Gretchen, ein Doctor bin ich nicht, aber wenn Du Mama recht lieb hast, so laß mich einmal an Deinen Arm fassen.“

„Er thut so weh,“ sagte Gretchen.

„Es soll gar nicht lange dauern.“

Gotthold nahm den kleinen Arm und bewegte ihn im Schultergelenk und im Ellenbogen – das Kind ließ es ruhig geschehen; dann glitt er vorsichtig an dem untern Arme herab bis zum Knöchel und bog ein wenig das Handgelenk. Das Kind wimmerte leise, Gotthold legte das Aermchen auf die Decke und richtete sich empor.

„Ich glaube mit voller Bestimmtheit versichern zu können, daß der Arm nicht gebrochen ist, es ist weiter nichts als eine starke Zerrung der Sehnen. Ich möchte einen einfachen Verband anlegen, der Gretchen von ihren Schmerzen befreien wird, da er sie verhindert, das Gelenk zu bewegen. Das wird ausreichen, bis der Doctor kommt. Darf ich?“

Er hatte leise gesprochen; aber das Kind hatte es doch gehört.

„Erlaube es ihm doch, Mama,“ sagte es; „ich habe den neuen Doctor viel lieber als den alten.“

Ueber Cäciliens bleiche Wangen rannen ein paar große Thränen, auch Gotthold’s Augen wurden heiß. Er fragte, ob wohl eine Binde, die er beschrieb, vorhanden sei; es war eine da, ganz wie er sie brauchte. Während er sie zusammenrollte, sagte er:

„Es ist doch gut, daß ich während meiner Studienjahre im Interesse meiner Kunst und aus wirklicher Liebe zur Sache fleißig anatomische und andere medicinische Collegia besuchte. Ich habe schon ein paar Mal mit meinem bischen Wissen helfen können, wo keine andere Hülfe zur Hand war und der Fall ein wenig schlimmer lag, als diesmal. Ich wiederhole: es ist auch nicht die Spur einer wirklichen Gefahr vorhanden und ich würde, wenn es sein müßte, ohne mich zu besinnen, die Verantwortung übernehmen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_599.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)