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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gretchen kam ihm, sobald sie seiner ansichtig wurde, entgegengelaufen.

„Wo bist Du gewesen, Onkel Gotthold? Was hast Du mir mitgebracht?“

Er pflegte dem Kinde stets von seinen Streifereien eine seltenere Blume, wunderlich geformte Strandsteine oder irgend eine andere Merkwürdigkeit mitzubringen; heute hatte er zum ersten Mal nicht daran gedacht. Gretchen empfand es sehr übel. „Ich habe Dich auch gar nicht mehr lieb,“ sagte sie, indem sie wieder zu ihrer Mutter lief; „und Mama soll Dich gar, gar nicht mehr lieb haben!“ rief sie, ihr Köpfchen aus dem Schooße der Mutter aufrichtend.

Gotthold hatte, nachdem er Cäcilie begrüßt, sich in einer geringen Entfernung von ihr auf eine zweite Bank gesetzt, wie er es stets that, wenn sie ihn nicht neben ihr Platz zu nehmen einlud. Sie hatte es heute nicht gethan und, als sie ihm stumm die Hand gab, kaum von ihrer Arbeit aufgeschaut. Es hatte ihn gerade jetzt schmerzlich berührt; aber während er sie still beobachtete, glaubte er zu bemerken, daß ihre Augenlider geröthet waren. Hatte sie vor ihm die Spuren frischgeweinter Thränen verbergen wollen? verbergen wollen, daß sie noch weinen konnte? daß der starre leere Blick, mit dem sie jetzt an ihm vorüber nach dem Kinde zu sehen schien, welches in der Tiefe des Platzes spielte, nicht der einzige Ausdruck sei, dessen die einst von sanftem Feuer so schön belebten Augen noch fähig seien?

„Ich ertrage es nicht länger,“ sprach der junge Mann bei sich.

Er war aufgestanden und zu Cäcilie hinübergegangen, die, als er herantrat, ihr Kleid zusammenstrich, trotzdem auch sonst noch Platz genug auf der großen Bank war.

„Cäcilie,“ sagte er, „ich habe halb und halb versprochen, noch bis Montag zu bleiben; aber ich habe daran gedacht, daß Selliens, wenn sie morgen kommen, die Nacht hier zubringen werden und vielleicht noch einer und der andere Eurer Gäste, und Du bist im Raum so wie so ein wenig beschränkt –“

„Du willst fort!“ unterbrach ihn Cäcilie; „weshalb es nicht gerade heraussagen?“

Sie hatte, als Gotthold zu sprechen begann, mit einem schnellen, schmerzlichen Blick, der ihm durch’s Herz schnitt, von ihrer Arbeit aufgeschaut; aber als sie antwortete, klang ihre Stimme ganz ruhig, nur ein wenig dumpf; sie lächelte sogar, während sie ihre Handarbeit wieder aufnahm.

„Wann willst Du fort?“ fügte sie nach einer Pause hinzu, da Gotthold, unfähig zu antworten, noch immer schwieg.

„Ich dachte morgen früh,“ erwiderte Gotthold, und es war ihm, als ob nicht er, sondern ein Anderer die Worte spräche; „Karl hat mir gesagt, daß er morgen früh einen Wagen hineinschickt.“

„Morgen früh!“

Sie hatte die Arbeit wieder in den Schooß sinken lassen und preßte für einen Moment Stirn und Augen in die linke Hand, während die Finger der rechten, die mit der Arbeit in ihrem Schooße lag, ein paar Mal leicht zuckten; dann fiel die Linke schwer herab und Cäcilie starrte mit gespannten Brauen vor sich nieder, während sie in demselben dumpfen Tone sagte: „Welchen Grund hätte ich, Dich zu halten?“

„Vielleicht den, daß Du mich gern hier sähest,“ erwiderte Gotthold.

Er meinte, sie habe es nicht gehört; aber sie hatte es wohl gehört; es dauerte nur so lange, bis sie sicher war, daß sie, ohne in Thränen auszubrechen, weiter sprechen könne. Sie wollte nicht weinen; sie durfte nicht weinen, und nun hatte sie sich wieder.

„Du weißt es,“ sagte sie; „aber das ist kein Grund, Dich halten zu wollen. Ich fühle zu wohl, wie unbehaglich das Leben hier ist; wie monoton, wie langweilig für Alle, die es nicht gewöhnt sind, und so leicht, in ein paar Tagen, gewöhnt man sich nicht daran, dazu gehören Jahre, lange Jahre. So lade ich Niemand ein – ich kann mir nicht denken, daß Jemand gern kommt; und so halte ich Niemand – ich kann mir sehr wohl denken, daß er gern geht. Weshalb sollte ich Dich anders behandeln als die Andern?“

„Gewiß nicht, wenn ich Dir nicht mehr bin als die Andern.“

„Mehr? Was heißt das? Du meinst, weil wir uns so früh gekannt haben, weil wir Freunde gewesen sind, als wir Beide noch jung waren? was will das sagen? was ist Jugendfreundschaft? Und blieben wir denn dieselben? Du vielleicht, in der Hauptsache wenigstens; ich gewiß nicht, ich gleiche der Cäcilie von damals so wenig wie – wie die Wirklichkeit unseren Illusionen; und wenn auch – ich bin verheirathet; eine Frau braucht keinen Freund, hat keinen Freund, wenn sie ihren Mann liebt, und liebt sie ihn nicht –“

„Nehmen wir den letzteren Fall,“ sagte Gotthold, als Cäcilie plötzlich schwieg.

„Der Fall ist nicht so einfach, wie er scheint,“ erwiderte Cäcilie, die Stiche an ihrer Arbeit revidirend; „ja, es sind sehr viele Fälle denkbar. Es ist ja zum Beispiel sehr wohl möglich, daß er sie trotzdem liebt – gegen treue Liebe wird auch eine weniger edle Frau selten unempfindlich und undankbar sein –; aber angenommen, er liebt sie nicht, liebt sie nicht mehr, hat sie wohl nie geliebt – nun, so kommt es noch immer darauf an, wie die Frau geartet ist. Vielleicht ist sie nicht stolz und schämt sich nicht, ihr Unglück einem Freunde zu beichten, der dann ihr Liebhaber werden dürfte; oder sie ist stolz, so wird sie – ich weiß nicht was thun, aber ganz gewiß sich lieber im tiefsten Schooße der Erde verbergen, als hingehen und sagen, es sei zu wem es sei: ich bin unglücklich!“

„Und wenn es dessen gar nicht bedarf, wenn ihr Unglück auf ihrer Stirn geschrieben steht, wenn es aus ihren Augen blickt, aus dem Tone jedes ihrer Worte klingt?“

Ueber Cäciliens feines Gesicht flog es wie der Schatten einer Wolke; aber sie glättete mit besonderer Sorgfalt die Naht an ihrer Arbeit, als sie mit leidenschaftsloser, fast gleichgültiger Stimme erwiderte:

„Wer kann das sagen? Wer ist so klug, daß er von eines Menschen Stirn die Gedanken lesen könnte und sich niemals täuschte und niemals das Gesicht des Andern nur zum Spiegel der eigenen lieben Eitelkeit machte? Aber das ist ein recht häßliches Gespräch, in welches wir da gerathen sind. Laß mich lieber wissen, wohin Du von hier gehst und wo Du in Zukunft zu bleiben gedenkst. Du willst nicht wieder nach Italien zurück? Mir däucht, Du sagtest das neulich einmal.“

„Ich danke Dir für Deine Theilnahme,“ erwiderte Gotthold mit bebenden Lippen; „aber ich habe noch nichts entschieden. Als ich Rom verließ, war es allerdings mit dem Wunsche, wenigstens eine Zeitlang hier im Norden zu bleiben und zu versuchen, ob mir die Heimath wieder Heimath werden kann; der Versuch wird wohl nicht gelingen, ist, glaube ich, schon mißlungen.“

„Das hieße, däucht mir, etwas schnell über eine solche Frage entscheiden,“ sagte Cäcilie; „aber die Frage ist auch wohl nur für uns Andere wichtig, Ihr glücklichen Künstler habt schließlich Eure Heimath in Eurer Kunst, und die nehmt Ihr überall mit Euch, wohin Ihr Euch auch wendet.“

„Und doch meine ich, daß wir unsere Kunst nur in der Heimath haben können,“ erwiderte Gotthold.

„Das heißt?“

„Das heißt, daß der Künstler nur in seiner Heimath das Höchste erreichen kann, zu dem er durch seine Anlagen befähigt ist. Ich schließe das aus der Geschichte aller Künste, die nur immer da und dann gediehen sind, wo und wann die Künstler das Glück hatten, an Stoffen, die ihnen das Land, dessen Bürger sie waren, und die Zeit, in der sie lebten – denn auch die Zeit ist in diesem Sinne die Heimath des Künstlers – ich sage: wenn sie das Glück und freilich auch die Kraft hatten, auf heimischem Boden an heimischen Stoffen ihr Talent frei entfalten zu können und zu entfalten. Ich schließe es aus meiner eigenen Beobachtung, die mich gelehrt hat, daß Diejenigen, welche damit begonnen, in ihrer Heimath – örtlich und zeitlich – keine Stoffe finden zu können, eben keine echten Künstler waren, sondern entweder Dilettanten und Anempfinder, oder geradezu Charlatans, die mit ihren künstlichen, des echten Lebens und damit des echten Werthes baaren Productionen nur den großen Haufen – das Bettelsuppenpublicum – täuschten, zu dem freilich sie im tiefsten Grunde ihres Wesens selbst gehörten.“

Gotthold hatte, als er über ein Thema zu sprechen begann, das ihm in diesem Augenblicke sehr fern lag, nur den Aufruhr in seiner Seele beschwichtigen, zum Wenigsten vor der blassen ernsten Frau an seiner Seite verbergen wollen, und dann hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_614.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)