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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wäre es nach meinem Willen gegangen; aber sie haben meinen Rath in den Wind geschlagen; sie haben es immer gethan.“

Eine seltsame, schauerliche Wandlung war mit dem Alten vorgegangen. Die hohe Gestalt war zusammengesunken, als wäre alle Kraft von ihr gewichen, die tiefe und vor wenigen Augenblicken noch so feste Stimme bebte und zitterte, als er nach einer kurzen Pause, die Gotthold nicht zu unterbrechen wagte, fortfuhr:

„Sie haben es immer gethan. Und so haben sie ihre Aecker verloren, einen nach dem andern, und ihre Wälder, einen nach dem andern, und sind Pächter geworden, wo sie einstmals Herren waren, und sind zu Grunde gegangen, Einer nach dem Andern. Ich habe es mit angesehen, mit ansehen müssen, und immer gedacht: nun kann es nicht schlimmer werden – aber das Schlimmste war mir noch vorbehalten. Sie waren Alle kopflos und leichtsinnig; aber schlecht waren sie nicht, Keiner von ihnen; und am Ende waren es Männer, die, wenn es sein mußte, von ihrer Hände Arbeit ehrlich leben konnten. Jetzt, jetzt wird selbst unser alter Name mit mir erlöschen; ein armes hülfloses Weib ist übrig geblieben, das ihren Namen vertauscht hat mit dem Namen eines Mannes, der ein Taugenichts ist, wie es seine Vorfahren waren; der Taugenichts wird sie mit sich in seine Schande ziehen - seine Schande und meine!“

Des Alten letzte Worte waren kaum verständlich gewesen; er hatte das runzelige Gesicht in den knorrigen Händen begraben. Gotthold legte ihm die Hand auf’s Knie.

„Wie mögt Ihr nur so reden, Vetter Boslaf,“ sagte er, „wie mögt Ihr Euch anklagen für ein Unglück, das Ihr nicht habt verhindern können; Euch, der Ihr immer des Hauses guter Geist gewesen seid!“

„Des Hauses guter Geist – großer Gott!“

Der Alte war aufgesprungen und ging mit großen Schritten zum nahen Strande, wo er stehen blieb, das Antlitz dem Meere zugewandt; sein weißes Haar flatterte im Winde; er hob die Arme gegen die dunkle See und ließ sie dann wieder sinken, unverständliche Worte murmelnd. Gotthold war an seiner Seite geblieben; war der alte Mann kindisch, war er wahnsinnig geworden?

„Was ist Euch, Vetter Boslaf?“ fragte er.

„Vetter Boslaf!“ schrie der Alte, „ja wohl, Vetter Boslaf! so hat er mich genannt und sie, und Alle mit ihnen und nach ihnen: meine Kinder und Kindeskinder!“

„Vetter Boslaf!“

„Und immer nur Vetter Boslaf! es ist ja auch ganz recht so, und wird auch so auf meinem Grabstein stehen. Auch sollte es kein Mensch hören, ich habe es geschworen; aber ich trage es nicht länger. Was wir an der Menschheit gefrevelt, soll ein Mensch erfahren, damit er uns unsere Schuld im Namen der Menschheit vergeben kann. Ich habe Dich immer lieb gehabt, und habe Dir heute das Leben gerettet; so sollst Du dieser Mensch sein.“

Er hatte Gotthold wieder zu der Bank geführt.

„Du hast wohl früher einmal von dem Handel gehört, den ich mit meinem Vetter Adolf um Dollan hatte?“

„Ja,“ erwiderte Gotthold, „und habe noch neulich, als ich Euch zu besuchen kam, an Alles lebhaft gedacht und in meinem Herzen die seltene Großmuth gepriesen, mit der Ihr den reichen Besitz und das geliebte Mädchen Eurem Vetter ließet, nachdem Ihr erfahren, daß er der von ihr Bevorzugte sei. Emma von Dahlitz, Ulrikens Vertraute, hatte Euch am Abend vor dem entscheidenden Tage diese Botschaft gebracht; verhielt es sich nicht so?“

„Ja,“ sagte Vetter Boslaf, „nur daß die Botschaft falsch war, und daß sie, die sie mir brachte, gelogen, aus Liebe – wie sie von ihrem Sterbebette ein paar Jahre darauf nach Schweden an mich schrieb – aus Liebe zu mir, den sie dadurch für sich zu gewinnen hoffte. Und dasselbe hatte die Unglückliche auch Ulriken gebeichtet, die, wie ich, ihren Lügen geglaubt, und daß ich ihrer gespottet und gehöhnt, ich wolle lieber eine Lappländerin mein Weib nennen als sie. Nun, ich hatte keine Lappländerin gefreit; aber die Unglückliche war Adolf’s Weib geworden, und so, als Adolf’s Weib und Mutter zweier Knaben, fand ich sie, als ich zurückkam. Ein drittes Kind – ebenfalls ein Knabe – wurde ein Jahr nach meiner Rückkehr geboren. Die beiden ältesten starben in ihrer Jugendblüthe; der dritte blieb leben und blieb das einzige, und dieser Knabe war – mein Sohn!“

„Armer, armer Mann!“ murmelte Gotthold.

„Ja wohl, armer Mann!“ sagte der Alte, „denn wer ist ärmer, als ein Mann, der sich seines Kindes nicht freuen, der nicht vor aller Welt sein nennen darf, was doch sein ist, wenn etwas auf der Welt. Ich durfte es nicht. Ulrike war stolz; sie wäre zehnmal lieber gestorben, als daß sie die Schmach des Ehebruchs auf sich genommen; und ich war feig, feig aus Liebe zu ihr und zu ihm – meinem armen, guten, ahnungslosen Adolf, den ich von Kindesbeinen an wie einen Bruder geliebt hatte, der mir ganz und völlig vertraute, der gegen eine Welt verfochten haben würde, daß ich sein bester, sein treuester Freund sei. So gingen ein paar fürchterliche Jahre hin; Ulrike verzehrte sich in dem entsetzlichen Widerstreite der Pflicht und einer Liebe, zu der sie sich nicht bekennen durfte, und starb; ich hatte ihr in ihre erkaltenden Hände schwören müssen, daß ich das Geheimniß bewahren wolle. So bin ich meinem Kinde und meinen Enkeln Vetter Boslaf gewesen und geblieben. Sie haben mich ein wenig höher gehalten als einen alten Diener, den man nicht verabschieden will, wie lästig er auch oft ist; sie haben mich auch reden lassen, wenn sie bei guter Laune waren; und wenn Eines geboren war, durfte der alte Vetter Boslaf beim Kindtaufsschmaus unten am Tische sitzen, und wenn sie Eines nach Rammin auf den Kirchhof trugen, in der letzten Kutsche hinterdrein fahren, wenn gerade noch ein Platz war. Ich habe es Alles getragen: Bitternisse ohne Zahl und Maß; ich habe geglaubt, daß ich durch Demuth, durch Liebe gegen Andere abbüßen könnte, was ich einst gefrevelt an meinem Fleisch und Blut; aber der Fluch ist nicht von mir genommen: ‚Ich sah niemals den Rechtschaffnen verlassen, noch seinen Samen betteln sein Brod.‘ Ich bin kein Rechtschaffner gewesen, mein Same wird sein Brod betteln müssen; ich bin so alt geworden, es noch zu erleben.“

„Nimmer und nimmermehr!“ rief Gotthold aufspringend, „nimmermehr!“

„Was willst Du thun?“ sagte der Alte, „ihm Geld leihen? Wo bleibt das Wasser, das Du zwischen die Finger nimmst? wo bleibt das Geld, das man einem Spieler leiht? Ich hatte ihm eines Abends die Ersparnisse von sechszig Jahren gebracht; es war eine nicht unbedeutende Summe, das Pachtgeld meiner paar Wiesen und Aecker auf Zins und Zinseszins; er hatte am nächsten Morgen keinen Schilling mehr von Allem. Du sagtest mir vorhin, Du seiest jetzt ein reicher Mann, Du kannst ihm vielleicht mehr geben. Er wird so viel nehmen, als er bekommen kann, und in dem Augenblicke, wo er nichts mehr bekommen kann, Dir den Stuhl vor die Thür setzen und Dir sein Haus verbieten, wie er es mir gethan. Er wußte wohl, daß ich ihn nicht verklagen würde, ja, daß ich ihn nicht einmal verklagen könnte; ich hatte mir es nicht schriftlich geben lassen, daß ich, was ich hatte, meiner Urenkelin geschenkt.“

„Und Cäcilie?“

„Sie ist ihrer Ahne rechtes Kind; sie ist zu stolz, um für das Elend, das über sie gekommen, mehr zu haben, als heimliche Thränen. Ich kenne diese Thränen von Alters her; sie geben dem Auge, das sie auf dem einsamen Kissen nächtens vergießt, einen starren angstvollen Blick, mit dem sie mich angeblickt hat, so oft ich ihr seitdem – es ist nicht oft gewesen – begegnet bin. Wo willst Du so eilig hin?“

Gotthold war aufgesprungen.

„Ich bin schon so lange – zu lange fort.“

„Erwartet sie Dich, Gotthold?“

Der Alte hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt; Gotthold sah, wie die scharfen Augen fest auf ihm ruhten.

„Nein,“ sagte er, „ich glaube nicht.“

„Und es ist besser so,“ erwiderte der Alte. „Es ist genug, daß ein Mensch erlebt hat, was ich erlebt habe. Wann sehe ich Dich wieder?“

„Ich wollte morgen früh fort; ich komme dann von Prora noch hierher.“

„Es ist gut; mein Kind ist so schon unglücklich genug; je früher Du fortkommst, desto besser ist es.“




14.


„Desto besser ist es!“ wiederholte sich Gotthold, während er durch den dunklen Wald dahinschritt. „Für wen? – für mich? mein Schicksal ist entschieden; für sie? was ist es ihr, ob ich

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