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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 40.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



„Und er soll Dein Herr sein.“[1]


Der Wirklichkeit nacherzählt von E. Rudorff.


„Katharina, hat meine Nichte ihre Balltoilette schon beendet?“ fragte die verwittwete Landräthin von Herbeck eine in das Zimmer tretende Dienerin, welche Shawls, Capuzen und Wintermäntel hereinbrachte.

„Das Fräulein wird bald herunterkommen, gnädige Frau!“

„So bringen Sie uns um sechs Uhr den Thee, Katharina! Das Thermometer ist zwar auf Null gestiegen, allein eine Tasse warmen Thees kann vor einer Fahrt über Land nicht schaden!“

Katharina verließ das Zimmer, und die Landräthin erhob sich von ihrem Lehnstuhl und ging einige Male in dem schönen großen Gemach auf und nieder.

Die Dame konnte fünfzig Jahre zählen und hatte milde, freundliche Züge. Sie war in ein Gewand von schwerem Seidenstoff gekleidet. Eine schwarze Mantille hing über einer Stuhllehne; Batisttuch und Handschuhe lagen daneben und aus einem offenen Haubenkörbchen guckte ein Spitzenaufsatz mit weißen Bändern hervor. Alles schien sorglich zu der Fahrt auf den Sylvesterball vorbereitet zu sein, welche man nach D., der eine halbe Meile entfernten Hauptstadt der Provinz, unternehmen wollte.

Frau von Herbeck folgte einem lebhaften Gedankenzuge. „Wenn Emmy doch ihr Glück nicht verscherzen wollte!“ – sprach sie zu sich selbst – „einen Bewerber wie Löbau findet sie wahrscheinlich nie wieder! Aber predige man doch Vernunft einem achtzehnjährigen, durch Huldigungen verwöhnten Kinde! Emmy ist schön, schöner noch, als ihre Mutter, meine so früh dahingegangene Schwester Antoinette, es war; in wenigen Jahren jedoch wird die Schalkheit und der Muthwille, welchen die Männer jetzt so unwiderstehlich an ihr finden, ernsteren Anschauungen, vielleicht der Erkenntniß begangener Thorheiten gewichen sein! Und wer weiß, ob die Schaar der Anbeter nicht überhaupt sich lichtete, wenn meine Augen geschlossen wären!“

Der Landräthin war von ihrem Gatten, mit dem sie zwanzig Jahre in einer kinderlosen und wenig befriedigenden Ehe gelebt hatte, nach dessen vor drei Jahren erfolgtem Tode der Nießbrauch seines Vermögens und das Gut Birkenwalde auf Lebenszeit testamentarisch gesichert worden, jedoch mit der Beschränkung, daß das Gut nach dem Ableben der Landräthin an den Vetter ihres Gatten, Herrn Victor von Herbeck, fallen solle.

Emmy hatte ihren Vater, den Hauptmann von Rohr, in zartem Kindesalter verloren, und die Mutter war dem Gatten nach wenigen Jahren gefolgt. Die Landräthin nahm sich der Verwaisten in treuer Liebe an und ließ des Mädchens schöne Anlagen in der nahen Hauptstadt der Provinz auf’s Sorgfältigste ausbilden, damit Emmy nöthigenfalls im Stande wäre, dereinst auf eigenen Füßen zu stehen. Seit ihrer Confirmation lebte Emmy ganz im Hause der Tante, und je mehr diese sich an dem frischen, heiteren Wesen und der innigen Liebe des Mädchens zu ihr erquickte, um so trauriger ward sie bei dem Gedanken, daß Emmy, die so ganz geschaffen schien, Lust und Freude in einem häuslichen Kreise zu verbreiten, genöthigt sein könnte, ein Unterkommen in einem fremden Haushalt zu suchen.

„Immer mit leichtem Sinn
Tanzen durch’s Leben hin –“

sang – nein jubelte gleich der Lerche – eine silberhelle Stimme im Corridor. Die Thür des Zimmers öffnete sich und die reizendste Mädchengestalt, welche man erschauen konnte, eilte über die Schwelle, breitete die Arme aus und umschlang Frau von Herbeck.

„Emmy, Du zerknitterst ja Deine weißen Tarlatanröcke und die Rosen und Schleifen bei dieser stürmischen Umarmung,“ warnte die Tante.

„Tantchen, wenn die Röcke und die Blumen mich hindern sollten, Dir den herzlichsten Kuß zu geben, so legte ich sie gleich wieder ab! Ich wollte Dich um Verzeihung bitten, daß Du so lange auf mich warten mußtest. Mein Wellenscheitel wollte gar nicht halten, und da habe ich ihn so lange bearbeitet, bis er völlig glatt anliegt und ich wie die Kirchengängerin auf dem Bilde in unserm Kalender aussehe. Ich will auch heute eine ganz ernste Miene auf dem Ball annehmen, gehen wir doch in ein neues Jahr! Wer weiß, was es bringen wird?“

Einen Augenblick schaute das liebliche Geschöpf träumerisch vor sich hin, dann glitt wieder ein glückseliges Lächeln über die schönen Züge und Emmy rief, die Hand der Landräthin an ihre Lippen ziehend: „Was es auch bringen mag, ich will es muthig tragen, bleibt mir nur die Liebe meiner guten, trauten, besten Tante!“

Frau von Herbeck streichelte die Wangen des reizenden Kindes und sagte: „Emmy, Du hast mich so lieb, und in einem Falle thust Du doch nicht, was ich so herzlich wünsche!“

Schalkhaft und mit leisem Erröthen blickte Emmy zu der Tante auf und sagte fragend: „Löbau? nicht wahr, ich hab’s errathen?“

„Warum bist Du so kurz angebunden, so wenig liebenswürdig

  1. Der Verfasser behält sich das Recht der dramatischen Bearbeitung vor.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_649.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)