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verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

sein Verhältniß zu Emmy zu bringen. Löbau wollte innig und voll Ernst zu ihr sprechen und, fand er sie sich geneigt – wie er es hoffte –, schnell die Entscheidung herbeiführen. In tiefster Seele bewegt und voll quälender Unruhe, traf Löbau an dem Sylvesterabend[WS 1] schon eine Stunde vor dem Beginn des Balles in D. ein. Gleichgültiges und mit Gleichgültigen zu sprechen, war ihm unmöglich; sein erstes Wort sollte an diesem Abend an Emmy gerichtet sein.

Löbau begab sich daher in eine dem Balllocale gegenüber liegende Conditorei, setzte sich in eine Fensternische und blickte auf die vorfahrenden Wagen, während er, scheinbar in die neueste Nummer der Zeitung ganz vertieft, dieselbe vor sich ausgebreitet hielt. Endlich fuhr die Equipage der Landräthin vor, die er sofort an den beiden Grauschimmeln und den großen Wagenlaternen erkannte. Wie eine Sylphide eilte Emmy die Stufen der Freitreppe hinauf; Löbau verließ seinen Platz und ging ebenfalls in das Balllocal. – Als Emmy in der Garderobe kaum die Winterhülle abgelegt hatte, traten Frau von Restorf und deren Tochter Laura – eine von Emmy’s Freundinnen – ein. Mit freudigem Ausruf begrüßten sich die jungen Mädchen, dann flüsterte Laura, indem sie in Emmy’s Haaren den Kranz von dunkeln Rosen befestigte, derselben zu: „So eben ist ein gewisser Jemand mit mir zusammen die Treppe heraufgekommen!“

„Ich weiß nicht, von wem Du sprichst!“ entgegnete Emmy, während sie das Köpfchen abwendete – anscheinend um Laura’s Bemühungen zu erleichtern.

„Schelm, Du weißt sehr gut, wen ich meine; Löbau ist Dir gar nicht so gleichgültig, wie Du uns einreden willst!“

„Mir nicht gleichgültig!“ eiferte Emmy, „er ist mir gerade so gleichgültig, wie Dir ‚Lord Merino‘!“

„Lord Merino“ hieß eigentlich Isidor Erlanger und war der einzige Sohn des reichsten Wollhändlers in der Provinz. Isidor hatte zu seiner geschäftlichen Ausbildung sich zwei Jahre in England aufgehalten und schwärmte nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt nicht nur für Alles, was er in jenem Lande gesehen, sondern ahmte auch die Sprechweise und das Gebahren der Engländer in fader Weise nach. Die jungen Mädchen, mit welchen er häufig in einem Lesekränzchen zusammenkam, hatten ihm daher spottweise den Namen „Lord Merino“ gegeben.

Laura achtete auf Emmy’s Bemerkung nicht weiter; die beiden jungen Mädchen halfen sich nun gegenseitig die von der Fahrt etwas in Unordnung gerathene Toilette ordnen, und Laura begann wiederum: „Gewiß tanzt der Bewußte heute den Cotillon mit Dir!“

„Das heißt, wenn ich es will, Laura! mir wird dies Gerede von Euch wirklich lästig; das Beste wird sein, ich tanze gar nicht mehr mit ihm!“

„Wenn er Dich auffordert, mußt Du doch mit ihm tanzen, Emmy!“

„Ich muß? Bin ich eine Sclavin? müssen wir Mädchen uns stets glücklich schätzen, wenn solch ein gestrenger Herr der Schöpfung uns würdigt, mit ihm einen Galopp oder eine Polka zu tanzen? Nein, Du sollst sehen, was ich thun werde!“

„Kinder, seid Ihr endlich fertig? plaudern könnt Ihr ja noch den ganzen Abend im Ballsaal!“ sagte Frau von Restorf, und die Damen verließen das Zimmer.

Das Garderobenzimmer führte auf einen Corridor, und aus diesem trat man in ein schmales Vorzimmer, von dessen beiden Seiten einige Stufen in den Ballsaal führten. Dieses Vorzimmer hatte drei offene Fensterbrüstungen gegen den Saal zu, welche – gleich den Logen im Theater – den schönsten Blick über den Ballraum und den Vorzug einer gemäßigten Temperatur gewährten. Die Landräthin nahm hier auf einem gepolsterten Sitze Platz und übergab Emmy dem Schutze von Frau von Restorf, die beide Mädchen in den Saal führte.

Emmy befand sich in einer gereizten Stimmung, die ihrem Wesen sonst ganz fremd war; wem sie eigentlich zürnte, das hätte sie kaum anzugeben gewußt. Der Saal hatte sich schon mäßig gefüllt, und in der Mitte desselben standen die Ballordner und einige andere Herren, unter diesen auch Löbau.

Bei dem Eintreten Emmy’s näherte er sich ihr sofort und sagte mit gepreßter etwas heiserer Stimme: „Darf ich um den ersten Walzer bitten, Fräulein von Rohr?“

„Ich danke, Herr von Löbau, ich bin schon engagirt,“ entgegnete Emmy in einem so kurzen herben Tone, wie sie noch niemals zu dem jungen Manne gesprochen. Das Mädchen erschrak selbst, als die Worte ihrem Munde entflohen waren; sie erwartete von Löbau die Aufforderung zu einem andern Tanze, den sie jetzt angenommen haben würde, oder irgend ein Wort des Bedauerns, an das man anknüpfen konnte. Allein er verneigte sich schweigend und ging nach dem Ausgange rechts, dem Treppenansatze zu.

Ihm unmittelbar folgte Herr Isidor Erlanger, der ebenfalls um den ersten Walzer bat. Mit Lord Merino tanzen müssen! das war hart! Emmy sagte jedoch schnell zu, damit der fatale Walzer vergeben sei und sie nicht als Lügnerin vor Löbau zu stehen hätte.

Nun wandte sie den Kopf, um der Tante freundlich zuzunicken, als ihr Blick dem Auge Löbau’s begegnete, der, statt die Stufen hinaufzusteigen, wenige Schritte von ihr entfernt stehen geblieben war. Emmy erbebte unter seinem Blicke, so hatte noch kein Auge auf sie geschaut. Was lag Alles in diesem Blick! Wer ihr das hätte deuten können! Wenn sie noch einmal in sein Auge blickte?

Wie ein furchtsames Kind, welches ein Gespenst zu sehen vermeinte und allen seinen Muth zusammennimmt, um noch einmal nach jener gefürchteten Stelle zu schauen, so wendete Emmy den Kopf nach Löbau hin.

Löbau war fort!

„Mit wem wird er tanzen?“ fragte sich Emmy.

Bald ertönten die einleitenden Tacte des Walzers und Herr Isidor Erlanger holte seine Tänzerin. Emmy war schweigsam, und Lord Merino trug die Kosten der Unterhaltung. Er erzählte von seinem Aufenthalte in England, daß er dort mit einer sehr angesehenen Familie verkehrt habe, die einmal sogar den Premier – Disraeli – bei sich gesehen, und daß er beinahe dort mit diesem Staatsmann zusammengetroffen wäre. Dann fragte er, ob Emmy „Coningsby“ von Disraeli kenne und daraus erfahren habe, daß die bedeutendsten Männer der Neuzeit jüdischen Ursprungs gewesen seien.

Endlich war der Walzer zu Ende. Löbau hatte ihn nicht getanzt! Emmy ersuchte ihren Partner, sie zu der Tante in das Nebenzimmer zu führen. Vielleicht hatte diese ihn gesprochen, vielleicht war er dort. Emmy nahm sich vor, sehr freundlich zu sein und ihm den ersten Orden im Cotillon zu geben. Die Landräthin hatte Emmy tanzen sehen, und diese mußte berichten, welchen Herren sie die übrigen Tänze zugesagt.

„Hast Du Löbau nicht gesehen?“ fragte die Tante.

„Er forderte mich zum ersten Walzer auf –“

„Nun, und –“

„Ich sagte ihm, daß ich bereits engagirt sei!“

Frau von Herbeck schöpfte keinen Argwohn, und bald mischte Emmy sich wieder unter die Reihen der Tanzenden. Es folgten noch drei Tänze, und den Schluß machte der Cotillon. Löbau tanzte nicht, das war sicher, und hatte, so schien es, das Balllocal schon vor dem Beginne des Walzers verlassen. Emmy suchte die Unruhe und Unbehaglichkeit, welche sich ihrer bemächtigten, unter einer forcirten Heiterkeit zu verbergen, die ihr immer schwerer wurde und sie endlich ganz traurig machte. War dies der Ball, von dem sie so viel Freuden sich versprochen?

Keine Dame empfing mehr Sträußchen, keine wurde so oft gewählt. Emmy hatte vorzügliche Tänzer; ihre Freundinnen plauderten heiter mit ihr. Die Tante lächelte beglückt dem Lieblinge zu – allein was war mit Löbau geworden?

Um die Mitternachtstunde erschollen zwölf dumpfe Schläge im Saale; es wurde Tusch geblasen, und Jeder eilte zu den Freunden und Bekannten, um ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Wie eine kleine Königin stand Emmy da, umgeben von einer Menge Herren und Damen, die dem heitern, reizenden Mädchen die herzlichsten Wünsche darbrachten. Und sie war so gar nicht froh!

Frau von Herbeck und einige befreundete Familien blieben zur Abendtafel. Es war zwei Uhr Morgens, als die Tante und Emmy den Wagen zur Rückfahrt bestiegen.

Leuchtend stand der volle Mond am Himmel; unzählige Sterne glitzerten an dem dunkelblauen Firmamente. Ein zarter Reif hatte die Aeste und Zweige der Bäume mit allerlei phantastischen Blüthen und Blättern geschmückt, die in dem herrlichen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sylversterabend
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_651.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)