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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Und sie wurden gekauft und ausgestellt und zogen in der That die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die bereits fast erwachsenen Jungen gediehen unter der unermüdlichen und unablässigen Pflege der Bachstelze weiter, ihr Federkleid vervollständigte sich, und schon nach wenigen Tagen waren sie, mit Ausnahme des Kuckuck’s, soweit erstarkt und selbständig geworden, daß sie der treuen Pflegerin wenigstens einen Theil ihrer Last abnehmen konnten. Die eine und die andere junge Stelze versuchte ein Bröcklein aufzunehmen, die Pieper folgten, und selbst die jungen Wendehälse lernten ihre Spechtzungen nach und nach gebrauchen. Nur der Gauch verursachte noch Arbeit und Mühe ohne Ende. Sein Hunger schien unersättlich, sein Magen unerfüllbar zu sein; wenn alle anderen Jungen sich befriedigt zeigten: er war es nie. Kaum hatte er die letzte Atzung von unzähligen hinabgewürgt, so öffnete sich der weite orangegelbe Rachen wieder, ein heiseres Kreischen wurde laut, und schwerfällig trippelnd nahte er sich der Pflegemutter, sie gelegentlich auch wohl durch einen nicht mißzuverstehenden Schnabelhieb an ihre Pflicht erinnernd. Dabei nahm er in unglaublich kurzer Zeit anscheinend um das Doppelte seiner Größe zu, das Gefieder wuchs so zu sagen ersichtlich, und je rascher er sich entwickelte, um so gewaltiger äußerte sich sein Heißhunger. Die Pflegemutter hatte, als die übrigen Kinder und Waisenkinder schon selbst fraßen, sich höchst gesittet benahmen und sie im Ganzen wenig behelligten, noch volle Arbeit, um den ewig Verlangenden zu befriedigen. Doch auch er sah es endlich den Halbgeschwistern ab, daß man selbst aus dem Futternapfe zulangen müsse, und schien zu erkennen, daß die unbeschreibliche Gier am Ende doch leichter dadurch gestillt werden könne, wenn er den weitgeöffneten Schnabel eigenmündig gebrauche, um mit einem Griffe desselben mehr in den Schlund zu bringen, als ihm die Pflegemutter bei zehnmaliger Atzung bieten konnte. So lernte er allgemach fressen und – schweigen.

Währenddem nahm unser Künstler die Gesellschaft auf wie sie war, ohne etwas hinzuzuthun oder wegzulassen, brachte das anziehende Familienbild getreulich in seine Mappe und ebenso auf den für die Gartenlaube bestimmten Holzstock.

Ich erzähle eine uralte, aber ewig sich erneuende Geschichte. So wie die Bachstelze, verfährt gar manche Vogelmutter noch. Alle echten Kuckucke werden von anderen Vögeln groß gezogen und zwar keineswegs von Stelzen und sonstigen Kerbthierfressern allein, sondern auch von Ammern und Finken, ja selbst von den so sehr mit Unrecht verschrieenen Rabenvögeln, überhaupt den zärtlichsten, hingebendsten Eltern, welche man sich denken kann. Schon gegenwärtig kennen wir über fünfzig verschiedenartige Zieheltern unseres über Europa und den größten Theil Nord- und Mittelasiens verbreiteten Kuckuck’s, und jedes Jahr fast lehrt uns neue Pflegeeltern verschiedener Verwandten des Gauchs kennen. Zu meiner nicht geringen Ueberraschung sah ich während meiner Reisen in Afrika einen Straußkuckuck, die zweite in Europa vorkommende Art der Familie, in ein Nest der Nebelkrähe fliegen, dort geraume Zeit verweilen und nachher sich wieder entfernen. Bei Besteigung und Untersuchung des Horstes entdeckte ich, daß dieser Vogel, ein Weibchen, soeben ein Ei zwischen die Kräheneier gelegt hatte. Wenige Tage später traf ich eine Krähenfamilie an, welche den jungen Straußkuckuck atzte. Diese von mir seiner Zeit veröffentlichten Beobachtungen wurden bezweifelt, sind aber inzwischen vollkommen bestätigt worden. In Spanien, wo Krähen und Straußkuckuck nicht zusammen vorkommen, legen die letzteren in die Nester der Elstern und Blauelstern, und werden von ihren Pflegeeltern mit den eigenen Jungen, welche glimpflicher als die Halbgeschwister unseres Kuckuck’s wegkommen, das heißt, nicht aus dem Nest geworfen werden, aufgefüttert und groß gezogen, so daß man in den Frühlingsmonaten auf dem Vogelmarkte von Madrid jederzeit junge Kuckucke unter den dem Neste entnommenen Blau- und gemeinen Elstern sehen kann. Ein in Indien lebender Kuckuck, der Koël, findet seine Zieheltern in der Glanzkrähe, während amerikanische und afrikanische Arten wiederum kleinere Vögel hierzu auserwählen. Nächst den Kuckucken entäußern sich die Kuhvögel, in Amerika lebende Verwandte der Staare, der Sorge für die Erziehung ihrer Jungen. Es giebt also immerhin eine ziemliche Anzahl von Vögeln, welche vom Hause aus zu Waisenkindern verurtheilt werden.

Alle bisher genannten Ziehkinder pflegelustiger Vögel wurden schon im Ei den Waisenmüttern in das Nest geschoben. Die Eier haben mit denen der Pflegeeltern eine mehr oder minder große Aehnlichkeit, und somit ließe sich vielleicht annehmen, daß die Alten den Betrug nicht merkten, sondern, wie man zu sagen pflegt, instinctmäßig brüteten und die entschlüpften Jungen großzögen, widersprächen dem nicht anderweitige Beobachtungen, welche die Barmherzigkeit der Vögel unzweifelhaft beweisen. Nicht allzuselten nämlich geschieht es, daß ältere Vögel und zwar nicht allein brutfähige Paare, sondern auch noch brutunfähige jüngere, sich hülfloser Jungen ihrer oder verwandter Arten freundlich annehmen und ihnen alle Liebesdienste, welche Eltern ihren rechtmäßigen Kindern angedeihen lassen, erweisen. Mein Vater beobachtete, wie ich bereits in meinem „Leben der Vögel“ mitgetheilt habe, daß eine Sumpfmeise die Jungen einer Finkmeise leitete, fütterte und bei Gefahr warnte, ganz als wären die Fremdlinge ihre eigenen Kinder, und daß die Pfleglinge dem fremden Elternpaare folgten und gehorchten, als sähen sie in ihm ihre Erzeuger. Ich selbst sah kleine Schilfsänger den Jungen eines verunglückten Rohrsängers Futter zutragen, ein uns befreundeter Forstmann eine Bachstelze junge Rothschwänze füttern. Auf allen Vogelbergen welche von Alken und Lummen bewohnt werden, finden sich jederzeit gutmüthige, überzählige, das heißt nicht verpaarte Vögel, welche blos auf die Gelegenheit warten, hülfsbedürftigen Jungen ihre Liebesdienste anthun zu können. Sobald eines der Eltern sich vom Neste entfernt, eilen sie herbei, um das Ei zu bebrüten oder das Junge zu füttern, und falls durch einen unglücklichen Zufall beide Eltern das Leben verlieren, übernehmen sie mit größtem Eifer die Aufzucht und Pflege der verwaisten Kindlein, so daß es auf einem Vogelberge wohl selten, vielleicht niemals so unglückliche Waisen giebt wie[WS 1] unter den Menschen. Alle Siedelvögel verfahren mehr oder weniger in derselben Weise, indem sie sich der Hülflosen annehmen, oder es sich doch gefallen lassen, wenn diese zu ihnen sich gesellen und mit den eigenen Kindern ihre Führung und Atzung beanspruchen. Entenarten, welche dicht nebeneinander brüten, gehen noch weiter, da sie gar nicht darauf warten, bis es Waisenkinder giebt, sondern lieber gleich die Eier ihrer Nachbarinnen stehlen und in ihr eigenes Nest rollen, gleichviel, ob diese Nachbarinnen mit ihnen zu einer Art gehören oder nicht. Kurz, der Trieb zu bemuttern zeigt sich bei einer sehr großen Anzahl der allerverschiedenartigsten Vögel, und unsere Henne, welche so oft als Ziehmutter der Enten dienen muß und ihre Pflichten mit größter Gewissenhaftigkeit erfüllt, auch wenn die natürliche Begabung der Entchen sich zu entfalten beginnt, erscheint den Kundigen keineswegs als besondere Aufnahme.

Nicht immer sind es alte, erwachsene Vögel, welche andere bemuttern und pflegen; es übernehmen vielmehr auch junge, kaum dem Neste entronnene Vögel Elternlasten und Elternsorgen. Halbgeschwister helfen ihren Eltern die spätere Nachkommenschaft groß ziehen und übernehmen altklug deren Führung und Leitung, gleichsam als wollten sie noch vor Kurzem empfangene Liebesdienste zurückzahlen. Mein Vater beobachtete dies bei Grasmücken. Naumann bei Teichhühnchen, und wahrscheinlich liegen noch viele ähnliche Beobachtungen vor, welche nicht veröffentlicht wurden oder mir nicht mehr erinnerlich sind.

Diese ausgesprochene Pflegelust, welche man recht wohl als Barmherzigkeit bezeichnen kann, wird von mir regelmäßig bei Erziehung junger Vögel benutzt, und ich habe auch in meinen „Gefangenen Vögeln“, einem praktischen Hand- und Lehrbuche für Liebhaber und Pfleger einheimischer und fremdländischer Käfigvögel, geradezu den Rath ertheilt, in zweifelhaften Fällen ebenso zu verfahren. Neunmal unter zehn Fällen darf man darauf rechnen, daß alte, zumal weibliche Vögel, es buchstäblich nicht mit ansehen können, daß Waisenkindlein verderben sollten, und daher willig und gern die Pflege derselben übernehmen. Ich will eine Geschichte wiederholen, welche ich in dem eben erwähnten Werke bereits erzählt habe, um meine Behauptung zu bekräftigen; sie mag als weiterer Beleg für das bis jetzt Mitgetheilte dienen. Vor zwei Jahren im Juni brachte man mir ein Nest mit halbflüggen Gartensängern. Ich war bekümmert, als ich die Vögel sah, kaufte sie aber doch, weil ich mich der Hoffnung hingab, daß einige Alte derselben Art, welche ich pflegte, meine Erwartungen nicht zu Schanden machen würden. Das Nest wurde in den Gesellschaftskäfig gebracht, passend befestigt, das fast ausschließlich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wi
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_655.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)