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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

gegenüber getreten ist. Ich wollte vorhin in Gegenwart der Frauen nicht davon sprechen. Brandow hat mit dem Scharfsinn, den ihm ja sein Feind lassen muß, vom ersten Augenblick geschlossen, daß Cäcilie sich über kurz oder lang auf ihrer Flucht hierher wenden müsse, falls sie es nicht sofort gethan. Er ist deshalb auf der Stelle umgekehrt und, was die Pferde laufen wollten, hierher gefahren; er muß Ihnen noch vor Prora begegnet sein. Seitdem hat er hier vor meiner Wohnung und vor der Ihrigen auf der Lauer gelegen; ich bewundere die Zähigkeit, mit der er an seiner einmal gefaßten Annahme festgehalten, und die Stirn, mit der er aller Welt erzählt hat, seine Frau sei für ein paar Tage auf Besuch gefahren, und die Komödie, die Vetter Boslaf mit den Leuten gespielt, – das Suchen auf dem Moore, im Walde – sei ein Schelmenstück, für das er den boshaften Alten, mit dem er längst verfeindet, zur Rechenschaft ziehen werde. Im Innern mag er freilich eine Hölle von Angst und Sorge gehabt haben, denn seine Feinde – und er hat deren nicht wenige, die Herren Redebas und von Plüggen voran – ließen es sich eifrigst angelegen sein, die schlimmen und schlimmsten Gerüchte in lebhaftesten Cours zu setzen, und man stand im Renn-Comité bereits auf dem Punkte, officiell eine Erklärung von Brandow zu fordern, als er gestern Abend im Club erzählen konnte, seine Frau sei vor einer halben Stunde angekommen und bei uns abgestiegen. Auch Selliens hätten sich um die Ehre beworben; aber der Assessor sei noch immer nicht ganz wieder hergestellt, und so habe er uns den Vorzug gegeben. Um seinen Aussagen das nöthige Gewicht zu geben, oder – ich weiß nicht, von welchem Teufel der Frechheit getrieben – hatte er, sobald er gestern Abend – ich vermuthe durch Alma Sellien, die unglücklicher Weise gerade bei meiner Frau war – Cäciliens Ankunft erfahren, bei uns geklingelt und sich bei meiner Frau melden lassen. Nun, Ottilie hätte ihn ohne Zweifel gern empfangen, und ihrem Herzen endlich einmal Luft gemacht; aber der alte Herr ist in’s Zimmer getreten und hat meine Frau mit jener vornehmen Höflichkeit, die wir seit zwei Generationen verlernt haben, gebeten, ihn auf eine Minute mit Brandow allein zu lassen. Es hat in der That noch keine Minute gewährt, da ist der alte Herr so ruhig wie immer zu den Damen in’s Zimmer getreten; und der Andere ist die Treppe hinabgestürmt und Cäcilie, die keine Ahnung von dem Attentat gehabt, ist erschrocken gewesen über die Heftigkeit, mit der Jemand die Hausthür zugeworfen. Hier sind wir vor der des ‚Goldenen Löwen‘. Ich bitte, lassen Sie mich hineingehen. Er darf, falls wir ihn ja heute Abend nicht finden sollten, auch nicht erfahren, daß Sie zurück sind.“

Wollnow trat in den Hausflur, durch dessen weitgeöffnete Thorfahrt ein lebhaftes Licht auf die sonst ziemlich dunkle Straße fiel. Es war in Folge der Rennen, die heute ihren Anfang genommen und morgen fortgesetzt werden sollten, ein bedeutender Verkehr in dem großen Hause; Wollnow mußte viel fragen, bevor er eine bestimmte Antwort bekam; Gotthold hatte längere Zeit zu warten. Als er, auf- und niederschreitend, sich wieder etwas weiter von dem Hause entfernt hatte, kam, plötzlich aus dem Dunkel einer Seitengasse auftauchend, eine weibliche Gestalt an ihm vorüber, die dann sofort mit einem leise gesprochenen „Karl!“ sich herum und zu ihm wandte, indem sie dabei den schwarzen Schleier zurückschlug. Gotthold erkannte, trotz des schwachen Lichtes, Alma Sellien.

„Sie irren sich gnädige Frau,“ sagte er.

Auch Alma hatte ihn erkannt; sie war ihrer Sache so sicher gewesen, nun raubte ihr der Schrecken fast die Besinnung; aber nur für einen Augenblick: „Es ist gut, daß es kein Anderer war,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge, und, als Gotthold keine Antwort gab: „ich habe ihn schon wiederholt gebeten, es Ihnen zu sagen; über kurz oder lang müssen Sie es ja doch erfahren, und für Sie kann es ja nur eine angenehme Nachricht sein; aber er hat immer nicht gewollt.“

„Und aus guten Gründen.“

„Aus welchen Gründen? bitte, bitte, sagen Sie mir Alles!“

„Zu einer andern Zeit und an einem andern Orte; Zeit und Ort dürften jetzt und hier nicht ganz schicklich gewählt sein.“

Wollnow trat aus dem Hause; „auf ein anderes Mal also!“ flüsterte Alma, indem sie den Schleier fallen ließ und in die dunkle Gasse, aus der sie vorhin aufgetaucht war, zurückschlüpfte.

„Wer war denn das?“ fragte Wollnow.

„Dieser Mensch wird noch die halbe Welt mit sich in den Schlamm ziehen,“ rief Gotthold.

„Wo wir ihn längst hätten suchen sollen, wenn wir ihn finden wollten,“ erwiderte Wollnow. „Es war Frau Sellien, nicht wahr? Sie verrathen kein Geheimniß; es war nur für uns eines; hier pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Der Mann macht es uns schließlich leichter, als wir dachten; dennoch ist es ein wundervoll glücklicher Zufall, daß Sie den Hinrich Scheel fingen. Wenn bei dem Burschen nur nicht im letzten Moment sein altes Clangefühl wieder zum Durchbruch kommt.“

„Ich glaube nicht; denn gerade daß Brandow dies Gefühl so brutal verletzt, daß er die Treue, die der Häuptling dem Gefolgmann schuldig ist, so schnöde gebrochen – das eben hat den rohen und in seiner Weise doch ehrlichen Menschen bis auf’s Tiefste erregt und empört. Nein, im Gegentheil: was ich fürchte, ist, daß ihm unser Vorgehen gegen Brandow nicht genügen wird, daß er sich in seiner Weise wird rächen wollen.“

„Und hat er denn so Unrecht?“ erwiderte Wollnow lebhaft, „betrügen wir nicht den Galgen um sein Opfer? Und wenn wir uns damit entschuldigen, daß es Frevel giebt, die kein Paragraph eines Landrechts trifft, und die schlimmer sind, als Mord und Straßenraub: kann Hinrich Scheel nicht dasselbe für sich anführen und verlangen, daß der Treubruch, der an ihm begangen und für dessen Verurtheilung er ganz gewiß keinen ordentlichen Richter findet, nicht ungesühnt bleibe? Aber, verzeihen Sie, lieber Freund, meine unlogische Hartnäckigkeit! ich sehe ja ein, daß die Zukunft mehr als eines guten Menschen von der Heimlichkeit abhängt, mit der wir zu Werke gehen. So mag denn so etwas wie ein Vehmgericht oder Gottesurtheil an die Stelle der öffentlichen Verhandlung treten. Hier sind wir am Clubgebäude. Ich lasse Sie ungern allein; aber ich fühle mit Ihnen, daß Sie dies ohne Secundanten ausfechten müssen.“

Gotthold schritt in dem hellerleuchteten Vorplatze auf und nieder; aus dem Restaurationssaale, in welches ein galonnirter Diener seine Karte getragen, schallte Lärm und Lachen und Gläserklirren; in dem Clubbureau saß der Registrator noch, eifrig schreibend, über seinen Büchern; in der Garderobe hatte man genug zu thun, den beständig kommenden und gehenden Herren die Sachen abzunehmen oder auszuliefern.

Der Diener erschien wieder: Herr Brandow bitte um Entschuldigung, aber er sei gerade sehr dringend beschäftigt; ob die Sache nicht bis morgen Zeit habe?

„Was soll Zeit haben?“ fragte Gustav von Plüggen, der unmittelbar hinter dem Diener aus dem Speisesaale getreten war, und Gotthold mit seiner gewöhnlichen, durch eine Weinlaune noch erhöhten lärmenden Lebhaftigkeit begrüßt hatte. „Was? Brandow dringend beschäftigt? dummes Zeug! dringend! sitzt hinter eine Pulle Sect und schreibt eine dicke Zahl nach der andern in sein verdammtes Wettbuch. Sind ja Alle wie närrisch, trotzdem Redebas und Otto und ich genug abgeredet haben; nach dem, was wir in Dollan gesehen, halte Alles für möglich. Wird gerade so kommen, wie mit dem Hurry-Harry auf dem Derby vor fünf Jahren. Mal in England gewesen? Famoses Land; Weiber, Pferde, Schafe – famos! Alter Witz von mir, der immer jung bleibt. Was ich sagen wollte: Brandow sprechen? Aber warum kommst Du nicht herein? mache mir ein Vergnügen daraus, alten Schulcamerad einzuführen. Berühmter Künstler! he? habe gestern bei dem Präsidenten vom Fürsten Prora, der in Rom Bekanntschaft gemacht und ganz entzückt ist, daß Du in Sundin bist, verteufelte Sachen gehört; soll ja was ganz Famoses sein! Sprach sogar davon, Dich aufzusuchen; merkwürdig! morgen auch auf dem Rennplatz. Apropos! schon Billet? Tribüne A? bitte, keine Umstände, siehst, habe noch ein halbes Dutzend; mache mir Vergnügen daraus! Hier herein!“

Der Diener hatte schon lange den Griff der Thür in der Hand gehabt. – Der Speisesaal war von einer sehr großen Gesellschaft angefüllt – den Clubmitgliedern und ihren Gästen, unter denen die Officiere der Garnison besonders zahlreich vertreten waren. Man saß an verschiedenen Tischen beim Champagner; es ging lebhaft, ja lärmend her; Niemand beachtete die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_816.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)