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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ohne Gotthold’s Antwort abzuwarten, die Treppe der Tribüne hinaufzusteigen. Gotthold mußte dem liebenswürdigen Freunde, der es nicht anders erwartete, folgen; oben würde sich schon leicht Gelegenheit finden, sich ohne Unhöflichkeit zu beurlauben.

Treppe und Tribüne waren überfüllt; aber man beeiferte sich, dem Fürsten, der allgemein beliebt war, Platz zu machen, damit er zu ein paar Sitzen auf der vordersten der Bänke gelangen könne, welche man eigens für ihn und seine Begleitung leer gelassen hatte. „Ich glaube, Sie thun doch am besten, mir zu folgen,“ rief der Fürst, über die Schulter gewandt, lachend Gotthold zu; „Sie sehen, es ist hier wie auch sonst noch auf der Welt des Zeus: Alles weggegeben!“ Aber Gotthold konnte bereits nicht anders, als von der gegebenen Erlaubniß Gebrauch machen. Die schmale Gasse, welche sich in dem Gange zwischen den Sitzreihen für den Fürsten geöffnet, hatte sich längst wieder geschlossen; ja, man drängte noch hinterher, um möglichst in die Nähe des Fürsten zu kommen, und bald sah sich Gotthold umgeben von der glänzendsten Versammlung älterer und jüngerer Damen der Landaristokratie im höchsten Staat, von weißköpfigen alten Edelleuten, besternten Würdenträgern der Civilbehörden, hohen Militärs, Aller Mienen dankbar lächelnd und Alle sich neigend und beugend gegen den jungen Fürsten, der, sich selbst nach allen Seiten neigend und verbeugend, die ihm dargebrachte Huldigung lächelnd entgegennahm.

„Durchlaucht kommt gerade in dem rechten Moment; wir werden sogleich die Ersten dort hinter jener Hügelwelle auftauchen sehen; darf ich Durchlaucht mein Fernrohr anbieten?“ schrie der alte Graf Grieben mit seiner krähenden Stimme.

„Danke, danke; ich möchte Sie nicht berauben, die Sache geht Sie näher an als mich; das Ziel ist doch, wie alle Jahre, hier vor den Tribünen?“

„Ei gewiß, Durchlaucht, da kommen sie!“

Der Fürst hatte nun doch für einen Moment das Fernrohr von dem alten Herrn genommen; auf der Tribüne entstand ein Rauschen und Rascheln, und „da kommen sie!“ – „bitte, sitzen bleiben!“ ertönte es von allen Seiten; und Aller Augen, bewaffnete und unbewaffnete, suchten jetzt nur noch die langgestreckte Hügelwelle, welche Graf Grieben dem Fürsten bezeichnet hatte und auf der jetzt in der That gleichzeitig drei bewegliche Punkte sichtbar wurden, die mit für die gewaltige Entfernung großer Geschwindigkeit den Hügel hinabglitten und bereits wieder in einer Senkung des Terrains verschwunden waren, als auf genau derselben Stelle abermals vier oder fünf bewegliche Punkte erschienen, um ebenso den Hügel hinabzugleiten und in der Terrainsenkung zu verschwinden. Aber das Interesse des Publicums haftete fast ausschließlich an den ersten drei Punkten. Aus der Zeitintervalle zwischen dem Auftauchen dieser und der folgenden vier – von den Nachzüglern ganz zu schweigen – war schon jetzt mit Sicherheit zu schließen, daß nur aus ihnen der Sieger hervorgehen konnte; und obgleich man auch durch das schärfste Glas nur eben constatiren mochte, daß die drei beweglichen Punkte in vollster Carrière daherjagende Reiter seien, nannte man doch bereits mit aller Bestimmtheit zwei Namen; über den dritten Reiter war man zweifelhaft; Einige meinten, es sei Baron Kummerrow auf dem Hengist, während Andere auf des Grafen Zarrentin Rebecca, geritten von dem jüngeren Baron Breesen, wetteten.

„Aber die zwei Anderen, Durchlaucht, die zwei Anderen sind mein Curt und der Karl Brandow!“ schrie, feuerroth vor Aufregung und mit den Händen gesticulirend, der alte Graf Grieben so laut, daß man es auf der ganzen Tribüne hören konnte.

Graf Grieben! Karl Brandow! Wie ein Lauffeuer flogen die Namen von Mund zu Mund die Tribüne hinauf, die Tribüne und die Treppe hinab und lief über die wimmelnde Menge unten, die auf den Fußspitzen stand und die Köpfe reckte: Graf Grieben! Karl Brandow auf dem Brownlock!

Karl Brandow! Es durchschauerte Gotthold seltsam. Das war der Name, der, wie eines bösen Zauberers Wort, sein Leben verödet und verwüstet; der Name, an den sich für ihn so viel schlimmes Gedenken geknüpft hatte von der Jugendzeit her, und der früher und später und nun gar in diesen letzten Tagen ihm der Inbegriff alles Dessen gewesen war, was in dem Labyrinth der Menschenbrust gegen die Götter des Lichts sich aufbäumt und empört. Und hier klang ihm der Name entgegen von allen Lippen: Karl Brandow, Karl Brandow! wie eines Mannes, dessen Nahen schon Heil und Segen ausströmt; und schöne Augen leuchteten und aristokratische Hände bewegten schon ungeduldig die spitzenbesetzten Tüchlein, mit denen sie dem Sieger Willkommen winken wollten. Hatte der Mann, dem so ein ganzes Volk in athemloser Spannung entgegenharrte, vielleicht Recht gegen den einsamen Träumer, wenn er Alles und Jedes daransetzte, sein glänzendes Ziel zu erreichen: Geld und Ehre und Frauengunst? konnte man ihm, der so kühn jedes Hinderniß nahm, zumuthen, daß er sich durch eine fromme Rücksicht aus seiner Bahn lenken ließ? konnte man ihm, der sein Leben unbedenklich in die Schanze schlug, wenn um einen geringeren Preis der Sieg nicht feil war, konnte man es ihm verdenken, wenn er es mit dem Wohl und Wehe, ja mit dem Leben Anderer nicht so genau nahm, wie man es von dem ruhigen Bürger verlangt und verlangen kann?

Solche wunderliche Gedanken schossen durch Gotthold’s Gehirn, während seine Blicke, wie die Blicke aller der Tausende, an der Stelle des Terrains hafteten, welche von den Kundigen in seiner Nähe als diejenige bezeichnet wurde, auf der die Reiter wieder zum Vorschein kommen mußten. Und da waren sie auch schon – jetzt als Reiter auch dem unbewaffneten Auge wohl erkennbar, – und „Graf Grieben und Karl Brandow!“ schallte es von Neuem. Denn nur zwei Reiter tauchten zu gleicher Zeit auf, während der dritte bereits so viel Terrain verloren hatte, daß er volle dreißig Secunden später erschien. Auf ihn war nicht mehr zu rechnen. Bei der rasend schnellen Pace, in welcher die Pferde liefen, konnte eine verlorene Secunde nicht wieder eingebracht werden, geschweige denn die Ewigkeit von dreißig! Es handelte sich nur noch um den Brownlock und die Bessy, die beiden Pferde, auf die man vom ersten Moment an sein Augenmerk gerichtet, auf die man hinüber und herüber bis zum letzten Augenblick ungeheure Summen gewettet. Würde der Brownlock siegen? würde die Bessy es davontragen? Niemand wagte es zu entscheiden, Niemand mehr eine Wette anzubieten oder anzunehmen; man wagte kaum noch zu sprechen, sich zu regen, so hatte die ungeheure Spannung Alle gefesselt. Stand doch die Zunge der Wage, ohne auch nur im Mindesten hinüber und herüber zu schwanken! War die Bessy, wie man allgemein behauptete, das schnellere Pferd, so hatte Brandow’s allbekannte Reitkunst den Unterschied auszugleichen gewußt; Kopf an Kopf – man konnte die mehrfach sich schlängelnde Bahn von der Tribüne aus so deutlich wie die Linie auf einer Landkarte verfolgen – sprangen die Pferde über die viertletzte, die drittletzte, die vorletzte Hürde; Schenkel an Schenkel nahmen die Reiter das letzte Hinderniß, eine sechs Fuß hohe Mauer, daß ein Ruf der Bewunderung durch die wogende Menge brauste. Und dann wieder athemlose Stille. In der nächsten Minute mußte es sich entscheiden. Hinter der letzten Hürde folgte eine Strecke von ungefähr fünfhundert Schritten vollkommen ebenen Terrains; dann kam das durch bewimpelte Stangen ringsum markirte, mehrere Morgen große Moorland. Gewann der Brownlock auf dem ebenen Terrain nicht einen namhaften Vorsprung, so war er verloren, denn die Bessy – das wußte man – ging leicht wie ein Reh über das Moor, und der Brownlock blieb entweder stecken oder mußte einen Umweg machen, der ihm wieder seinen Vorsprung und dann ganz gewiß den Sieg kostete.

Aber der Brownlock gewann keinen Vorsprung, nicht einen Fuß, nicht einen Zoll; Kopf an Kopf jagten sie über die erste Hälfte, und jetzt kam die Bessy vor, eine halbe, eine ganze Pferdelänge, zwei, drei, ein halbes Dutzend Pferdelängen. – Die auf den Brownlock gewettet, wechselten die Farbe, aber auf der Bessy stand die hundertfache Summe; sie warfen sich triumphirende Blicke zu; zu sprechen hatte Keiner die Zeit; schon näherte sich die Bessy dem Rande des Moores: man sah, wie ihr Reiter sich im Sattel wandte, die Entfernung zwischen ihm und dem Nebenbuhler zu taxiren; und jetzt jagte er links ab, am Rande des Moores hin – „famoser Junge,“ schrie der alte Graf Grieben; „breiter, Durchlaucht, breiter da; aber festerer Grund, und hat ja Zeit! Der Brownlock kann’s nicht mehr holen, hurrah!“ rief der enthusiastische alte Herr, seinen Hut schwenkend. Und „Hurrah, hurrah!“ schallte es durch die leicht bewegliche Menge, die eben noch dem Brownlock zugejubelt hatte; „Bessy siegt, Brownlock verliert! Hurrah!“


(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_834.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)