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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Thier sich hoch und höher bäumte, mit den stahlbedeckten Hufen wüthend in die Luft hauend, als möchte es seinen Quäler vernichten. Und jetzt traf einer der stählernen Hufe den Kopf des unheimlichen Mannes; und der Mann, als hätte er eine Kugel durch die Stirn bekommen, brach jäh zusammen; in demselben Moment aber überschlug sich das wieder emporschnellende Pferd, in fürchterlichem Fall den Reiter unter seiner Last begrabend. Angstheulend stob die Menge auseinander.

„Ein Arzt, ein Arzt, ist kein Arzt hier?“

Es war kein Arzt da; es hätte auch kein Arzt helfen können. Der Mann, der dem Pferde hatte in die Zügel fallen wollen, und in welchem jetzt auch Andere Brandow’s früheren Traineur, den steckbrieflich verfolgten Hinrich Scheel erkannten, lag mit zertrümmertem Schädel und fürchterlich verzerrtem Gesicht, aus dem die gebrochenen Augen gräßlich starrten, todt auf dem Rücken; sein Herr lebte noch, aber Gotthold, der ihn in seinen Armen hielt, sah, daß es schnell zu Ende ging. Todesblässe bedeckte die feinen scharfen Züge, seltsam schauerlich glänzten die weißen Zähne aus den blauen Lippen. Und nun flog ein Zucken durch den ganzen Körper; das Haupt sank an Gotthold’s Brust.

„Hier kommt ein Arzt!“ riefen ein paar Stimmen.

„Er findet nichts mehr zu thun,“ murmelte Gotthold, „helfen Sie mir, ihn forttragen.“

Als man ihn aufhob, kreischte eine Dame in blauem Schleier, die mit krampfhaft gefalteten Händen dabei gestanden, laut auf und fiel in Ohnmacht.

Man achtete nicht eben darauf; es waren schon verschiedene Damen in Ohnmacht gefallen.




35.


Ein wunderschöner Herbst mit goldigen, mildwarmen Tagen und sternenklaren Nächten war in’s Land gekommen. Ueberall blühten noch in den Gärten neben den Astern sommerliche Rosen, und nur ganz allmählich färbten sich die Wälder. Es war so still in den Lüften, daß die Sommerfäden kaum von der Stelle rückten, und wenn ein Blatt herab sank, blieb es liegen, wo es den Boden berührt. Die Zugvögel hatten ihre Wanderschaft unterbrochen und in den Hecken, auf den Feldern zirpte und lockte es mit kleinen munteren Stimmchen, während des Abends vom Strande her noch die wilden Schwäne riefen, die sonst um diese Zeit längst auf den mächtigen weißen Schwingen in ihre nordische Heimath entschwebt waren.

Es war ein wunderschöner Herbst, der dem Sommer täuschend ähnlich sah; „aber es ist eben eine Täuschung,“ sagte sich Cäcilie, „der Sommer ist zu Ende; der Winter steht vor der Thür; ich muß mich auf den Winter einrichten.“

Sie war schon seit sechs Wochen in Dollan, das sie nie wieder zu betreten gedacht, nie wieder zu sehen gehofft hatte. Aber die Aerzte hatten dringend gewünscht, daß Gretchen zu ihrer Wiederherstellung von der schweren Krankheit, wenn ein winterlicher Aufenthalt im Süden unthunlich sei, wenigstens die schönen Herbsttage an der See verlebe an einem sonnigen, vor rauheren Winden geschützten Ort; und welcher Ort hätte diesen Anforderungen mehr entsprochen, als das stille, sonnige Dollan? Und wenn es trotzdem ein Opfer für sie war, hierher zurückzukehren, so brachte sie es ohne Zögern gern ihrem Kinde und ihrem alten Vater.

Er hatte so dringend nach Dollan zurückverlangt, als er aus einer tiefen Ohnmacht, welche ihn ein paar Tage nach der Katastrophe auf der Rennbahn mitten im Kreise der Freunde jäh befallen, gegen das Erwarten des Arztes, noch einmal zum Leben erwacht war. „Erfüllen Sie dem alten Manne seinen Wunsch,“ sagte der Arzt, „und thun Sie es schnell; er wird nicht viele Wünsche mehr zu stellen haben. Seine Tage sind gezählt, und da ist es wohl unsere Pflicht, ihm für diese Tage all’ den Sonnenschein zu schaffen, dessen er hier in der Straßen quetschender Enge so schmerzlich entbehrt.“

Und mit tiefer Dankbarkeit begrüßte der alte Mann den Sonnenschein auf seiner Heimathflur. Nicht, als ob er seinen Dank in Worten geäußert hätte! Er sprach auch sonst nur wenig mehr; aber auf seinem blassen stillen Gesicht lag ein so unverkennbarer Ausdruck tiefsten Friedens, und aus seinen milden Augen leuchtete es oft wie frohes Erinnern und um seine Lippen spielte oft ein glückliches Lächeln, während er an Cäciliens Seite, an Cäciliens Arm langsam durch die sonnigen Felder schritt. Oft war er auch – manchmal schon am frühen Morgen – allein ausgegangen, und Cäcilie war um ihn besorgt gewesen und hatte endlich zu bitten gewagt, daß er sie mitnehmen möge, es sei ihr keine Stunde zu früh. Aber der alte Mann hatte ihr die Wangen gestreichelt und gesagt: „Laß mich nur; Du kennst sie ja doch nicht.“

Cäcilie hatte über das sonderbare Wort nachgesonnen und es erst begriffen, als sie einmal von ihrem Fenster aus in der Morgendämmerung den Alten im Garten lange an einem der ältesten Bäume stehen sah – einer Linde, von der die Sage ging, daß Karl der Zwölfte von Schweden schon in ihrem Schatten gesessen –, und dann hatte er mit dem schneeweißen Haupte genickt und mit der Hand gewinkt, wie die Menschen pflegen, wenn sie von Jemand Abschied nehmen. Ja, der alte Mann nahm Abschied, wenn er so allein durch Garten und Feld und Wald und Wiesen streifte – Abschied von den Freunden, Bekannten seiner Jugend: von einem Baume hier, unter dessen Zweigen er von der Geliebten geträumt; von dem Felsen dort, an dessen harte Brust er einst das jammergequälte, jugendstarke Herz gepreßt; von der Wiese, auf der er das wilde Roß getummelt, mit dem er sich die schöne Ulrike von Dahlitz erreiten wollte; von dem Walde, dessen Echo so oft der Knall seiner guten Büchse wachgerufen. Er trug sie jetzt nimmer, die gute Büchse, die ihn sonst auf allen Wegen begleitet; sie lehnte ruhig in der Ecke; er hatte von der treuen Gefährtin für immer Abschied genommen.

Auch nach dem Strandhause lenkte er nie mehr seine Schritte; und als er einst an Cäciliens Seite durch den Wald gewandert war und sie unversehens aus den Bäumen heraus auf die Uferhöhe traten, schien er fast erschrocken, und dann schüttelte er das ehrwürdige Haupt und murmelte: „Das hat mich viele Jahre gekostet, viele, viele Jahre!“ Darauf hatte er mit der Hand eine Bewegung gemacht, als wollte er sagen, daß diese Jahre weggewischt seien von der Tafel seiner Erinnerung.

Vielleicht waren sie es; er erwähnte nie mit einem Worte der unendlichen Zeit, welche er im Strandhause verlebt; aber manchmal fing er an zu erzählen von seinen Jugendjahren – uralte Geschichten, von denen kein Lebender wußte, außer ihm, und dabei konnte er behaglich lachen, und ein andermal rannen ihm die Thränen über die welken, blassen Wangen.

Uralte Geschichten, in denen er Alles wußte, jeden Namen und Vornamen und den Tag und die Stunde, und ob die Sonne geschienen oder der Regen geregnet; aber von dem, was jüngst geschehen war, wußte er nichts, oder verwirrte es in der seltsamsten Weise. So nannte er Cäcilie wiederholt mit dem Namen der Geliebten seiner Jugend: Ulrike; und es war Cäcilie peinlich bis zum Schmerz gewesen, daß er dann und wann von ihrem Gatten sprach, von Gretchens Vater, als von einem geliebten Menschen, nach dem er eine große Sehnsucht empfinde, obgleich er ja erst kürzlich dagewesen, bis sie begriff, daß er Gotthold meine.

Es hatte sie im ersten Moment seltsam berührt; und dann, als der alte Mann wieder darauf zurückkam und so ruhig, als ob es nie anders gewesen sei, nie anders sein könne, ihren Namen mit dem des Geliebten in so innige Verbindung brachte, hatte sie es hingenommen, wie einen holden Traum, den man mit halbgeschlossenen Augen und halbwachen Sinnen träumt, bis sie vor der Gefahr, die in dem Traume lag, erschrocken aufgefahren war. Es durfte, es konnte ja nicht sein! weshalb sich eine Wirklichkeit vorgaukeln, die unmöglich war, eine Zukunft, die niemals kommen konnte!

Und das sagte sie mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit und einem Strom von Thränen, mehr zu sich selbst, als mit dem Alten redend, wie er wieder einmal von Gotthold gesprochen, der zu lange ausbleibe, der sie, die sich so nach ihm sehne, das Kind, das so gern mit ihm spiele, zu viel und zu lange allein lasse. Sie sagte ihm, daß sie nicht daran denken dürfe; daß zu viel, zu viel geschehen sei, was sie für immer trenne, und daß sie ihr Blut, wenn es nicht ihrem Kinde und ihrem Vater gehörte, Tropfen um Tropfen für ihn hingeben würde, aber daß sie nie und nimmer seine Gattin sein könne.

Es war im Garten an einem der sommerlich schönen Abende dieses Octobermondes, und der Alte hatte, während sie sprach, tiefernsten Gesichts in den saffranfarbenen Ost geblickt, der durch das bunte Laub der Bäume schimmerte, in welchem auch nicht

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