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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


bestimmt, der das Steuer lenkt und das Commando führt. Im Boote ist Schießbedarf und Proviant auf zwei bis drei Wochen, ferner hat man Pelze, Stroh, Holz zur Feuerung und zur Bereitung der Speisen einen Kessel oder Grapen (eisernen Topf). Abends wird das Boot auf’s Eis gezogen und umgekehrt gegen die Windseite gestellt, so daß wir, vom Feuer erwärmt, so gut im Stroh schlafen, als lägen wir in weichen Betten. Bei Tage lassen wir das Boot an einer sichern Stelle auf festem Eise und gehen dann einzeln oder paarweise aus auf den Fang. Abends müssen Alle wieder am Boote sein, weshalb sie sich genau die Richtung merken und nach dem Compaß den Rückgang antreten.“

An diese Erzählungen des Alten, der recht redselig geworden war, knüpften sich noch manche Berichte über erlebte Abenteuer, Anekdoten von kühnen Jägern und andere Wunderdinge, die häufig die Grenze des Glaubwürdigen etwas zu sehr überschritten. So kamen wir denn in sehr heiterer Stimmung auf unserer Felseninsel wieder an.

Später in Reval hatte ich Gelegenheit gehabt, mich nach dem Umfange und dem Ertrage der Seehundsjagd im östlichen Theile des baltischen Meeres zu erkundigen, obgleich genaue statistische Angaben wohl nicht zu erhalten sind, denn ein großer Theil der Beute wird zu eigenem Gebrauche verwendet, oder an die Strandbewohner in kleinen Partien verkauft oder gegen Korn und andere Lebensbedürfnisse vertauscht.

Aus dem Speck wird der Thran theils ausgekocht, theils ausgepreßt. Am geschätztesten ist die von selbst in der Sonne ausfließende Flüssigkeit, doch ist die Quantität derselben in unseren Gegenden nicht groß. Das Auskochen geschieht jetzt meistens in großen Kufen durch Dampf, und es braucht dann nur der klare Thran abgeschöpft und in Fässer gefüllt zu werden. Der Rest wird mit etwas Wasser in großen Kesseln stark gekocht und dann gepreßt, wodurch man eine bräunliche, theerartige Flüssigkeit gewinnt, die aber zu verschiedenen Industriezweigen noch ganz brauchbar ist, doch wenig in den Handel kommt. Im Herbste gewinnt man von einem Pud (vierzig Pfund) Speck gegen fünfunddreißig Pfund reinen Thrans, im Frühjahre und von jungen Thieren nur fünfundzwanzig bis dreißig Pfund. Ein großer Seehund kann daher etwa hundertundfünfzig Pfund Thran liefern.

Nach der Aussage unterrichteter Männer ist in Finnland der Ertrag der Seehundsjagd wenigstens noch einmal so groß als an den südöstlichen Küsten der Ostsee, so daß man daselbst etwa vierzigtausend, im weißen Meere über achtzigtausend und im kaspischen Meere gegen dreihundertsechszigtausend Pud Speck jährlichen Gewinns rechnen kann. Im Ganzen also würden die Bewohner Rußlands aus dieser Jagd etwa eine halbe Million Pud (zwanzig Millionen Pfund) Speck im Werthe von wenigstens einer Million Silberrubel gewinnen, eine Annahme, die eher zu gering als zu hoch angeschlagen ist. Zu diesem Zwecke müssen jährlich etwa fünfzigtausend erwachsene und hundertfünfzigtausend junge Seehunde von verschiedenen Arten ihr Leben lassen; dennoch ließe sich, namentlich im weißen Meere, der Ertrag der Jagd noch bedeutend steigern.

Der Verkauf der Felle, deren freilich viele für den eigenen Bedarf zurückbehalten werden, bringt ebenfalls den Jägern noch eine erhebliche Einnahme. Ein weißes weiches Fell, wie es die jungen Thiere bis zum Alter von vier Wochen haben, wird für fünfzig bis sechszig Kopeken (fünfzehn Groschen deutsch) verkauft, und sechs bis acht derselben reichen hin, um daraus einen warmen, glatten und weniger dem Mottenfraß ausgesetzten Pelz anzufertigen. Färbt man die Felle dunkelbraun, so haben sie Aehnlichkeit mit dem sehr geschätzten und werthvollen Seeotterfelle.

So ergiebt sich aus dieser Jagd, die, abgesehen von den Küsten Sibiriens, über welche keine speciellen Nachrichten gesammelt sind, vielleicht zehntausend Menschen mehrere Monate hindurch beschäftigt, ein bedeutender Zuwachs des Nationalreichthums, der durch die seit einigen Jahren gegebenen verständigen Anweisungen und Verordnungen für höhere Entwickelung dieser Industrie voraussichtlich noch gesteigert werden wird.

C. R. in Reval.




Blätter und Blüthen.


Das Ende der Homburger Spielbank. Zum letzten Male sollte nunmehr in den Spielsälen der Schlachtruf erschallen: „Messieurs, le jeu est fait, rien ne va plus!“, und so zog es denn auch uns vor einigen Tagen hierher in die prachtvollen Curhausräume; doch regten diesmal die altbekannten Dinge, auf welche wir den letzten Scheideblick warfen, bei unserm Eintritt ganz eigene neue Reflexionen in uns an.

Im Corridor starrte uns noch immer die Inschrift entgegen, wonach der Eintritt in die Säle „Personen von zweifelhaften Verhältnissen“ untersagt ist, obwohl uns die Mehrzahl der Besucher von jeher weder moralisch „reinlich, noch zweifelsohne“ zu sein schien. Und im Vorsaal hing noch immer die zur Reclame dienende Abbildung des Schlosses von Monaco und reizte uns zu Parallelen zwischen den alten, die Geld-, und Pfeffersäcke bedrohenden Ritterburgen und den heutigen industriellen Ausplünderungsinstituten, welche gerade nicht zum Vortheile der letzteren ausfielen.

In den Spielsälen trafen wir ein buntbewegtes Leben, und es hatte uns unsere Ahnung nicht betrogen, daß der herannahende Schlußmoment der Stadt noch eine beträchtliche Anzahl von Fremden zuführen würde, welche Alle die Lust anwandelte, „die letzten Tage von Pompeji“ mit zu feiern. Nur den Spiel-Crösus selber, Herrn Blanc, vermißten wir in den Sälen, obwohl er noch immer dahier verweilt. Die Stadt Homburg hegt zwar, beiläufig bemerkt, im Hinblick auf die vielen Chicanen, welche er ihr noch in der letzten Zeit zugefügt, nicht die Absicht, ihm, wie Baden-Baden Herrn Dupressoir, das Ehrenbürgerrecht zu verleihen; doch wird sie dem Vernehmen nach ihm zu Ehren vor seiner bevorstehenden Abreise ein Abschiedsfeuerwerk veranstalten, wobei sämmtliche Spieltische nebst Rateaux und sonstigem Zubehör in die Luft gesprengt werden sollen, und sie will – wie weiland Held Blücher, als er im Jahre 1815 zu Paris die Jena-Brücke sprengen wollte, an den Minister Talleyrand – in gleicher Weise an Herrn Blanc die Einladung ergehen lassen, sich vor der Explosion gütigst oben darauf zu setzen.

Im Uebrigen waren all’ die altgewohnten Gesichter vertreten und es war interessant zu sehen, mit welcher Begierde die Blicke der Spieler die Goldmassen verfolgten, welche so verlockend, aber auch fast so unerreichbar wie die köstlichen Früchte des Tantalus, vor ihren Augen blinkten. Namentlich fehlte auch nicht die edle Genossenschaft der „Piqueurs“, „Spielprofessoren“, und „Erbschaftsräthe“, welche letzteren die sogenannten „verlorenen Massen“, das heißt die von den großen Spielern übersehenen Gewinnste“ im Interesse der Ordnung und des ungestörten Fortgangs des Spiels einzuziehen und verschwinden zu lassen pflegen. Nur waren heute die Physiognomien dieser catilinarischen Existenzen sorgenvoller als sonst, in Folge der bangen Ungewißheit, ob sie denn Alle demnächst in den beiden „Zukunftsstädten“ Saxon und Monaco ihr sicheres Asyl finden würden – was wohl Gott, oder vielmehr Vitzliputzli selber kaum wissen mag.

Der Nestor der Croupiers, „Papa Duché“, welcher die unberechtigte Eigenthümlichkeit bewahrt hat, nur französisch zu sprechen, indem er als Stockfranzose trotz seines dreißigjährigen Hierseins auch nicht ein Wort der deutschen Sprache erlernte, überschaute wehmüthigen Blickes die beträchtliche Schaar der von ihm zum Dienst herangebildeten Jünger, als ob er fragen wollte:

Wer wird künftig unsre Kleinen lehren,
Kugeln werfen und die Beutel leeren,
Wenn der finstre Orcus uns verschlingt?

Und so manche Schöne unserer Demimonde blickte traurig ihren Geliebten an, dessen mit Rubeln gespickte Börse sie so oft hat erleichtern helfen, und seufzte als moderne Andromache:

Du wirst hingehn, wo der Tag nicht scheinet,
Wo die Wolga durch die Wüste weinet,
Deine Liebe an der Newa stirbt. –

Unsers Bleibens war indessen nicht lange in den Sälen, und wir brachen zeitig auf, um uns einem fröhlichen Freundeskreise zuzugesellen.

Als wir aber am andern Morgen, am 29. v. M., durch die Straßen der Stadt flanierten, starrte uns an allen Ecken ein Placat entgegen, durch welches die Curhausadministration bekannt machte, daß die Spielsäle, welche an dem laufenden Tage (Sonntag) feiern müßten, auch an den beiden nächstfolgenden Tagen geschlossen bleiben würden. Herr Blanc hatte es also für gut befunden, das Spiel schon zwei Tage vor dem gesetzlichen Schlusse ohne Sang und Klang zu Grabe zu tragen, und die Curgäste, welche sich für die letzten Tage noch manche vergnügte Stunde versprochen hatten, stritten sich darüber, ob das Motiv zu diesem Schritte darin zu finden sei, daß er zum Schlusse noch allerlei Unfug und tumultuarische Scenen befürchtet habe, oder ob er auf diese Weise nur seine Machtherrlichkeit habe beweisen wollen, wobei sie es an Verwünschungen über den Urheber dieses modernen Strikes nicht fehlen ließen.

Der gestrige Tag brachte uns aber eine neue Ueberraschung; denn plötzlich ließ Herr Blanc die Spielsäle wieder öffnen und die Tische herrichten. Um drei Uhr Nachmittags begann abermals das Spiel. Es hatten ihm nämlich, wie man hört, einige „sehr gelehrte“ Pariser Advocaten vorgestellt, daß er, wenn er bis zum letzten Moment fortspiele und nur dem Zwange weiche, bessere Chancen haben würde in dem Processe, welchen er gegen unseren Fiscus auf Schadloshaltung für die widerrechtliche Aufhebung seines mit dem vormaligen Landgrafenthum abgeschlossenen Vertrags anstrengen will, wonach er bis zum Jahre 1890 fortzuspielen berechtigt sei, und daß ihm in diesem Falle die begehrte Entschädigungssumme von nicht weniger als sechszig Millionen Franken sicher wäre (?).

Anfangs war zwar gestern das Spiel unbedeutend, da schon ein großer Theil der Fremden die Stadt grollend verlassen hatte. Es muß sich aber die Kunde von jener neuesten Action mit rapider Schnelligkeit verbreitet haben; denn die nächsten Bahnzüge brachten uns schon eine ansehnliche Zahl von Gästen, und gegen Abend waren die Säle gefüllt, wie immer, und das Spiel im belebtesten Gange.

Endlich nahte um elf Uhr Abends, nachdem das trente et quarante bereits vor einer Viertelstunde geschlossen, auch an dem letzten Roulettetisch der Moment des letzten Croups; der klagende Ruf des Croupiers erscholl: „Messieurs, à la dernière for ever!“ und mit fieberischer Hast wurde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_035.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)