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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
IV.

Unseres jungen Adlers erster Ausflug in die Welt war demnach mißlungen: nicht zwar mit gebrochenen, aber doch mit halbgeknickten Schwingen ist er in’s elterliche Nest zurückgekehrt. Der Vater vermochte beim Willkomm eine beträchtliche Verlängerung seines Gesichtes, die Mutter den Ausdruck der Angst und Bekümmerniß nicht zu verhalten. Freude über das Wiedersehen des Bruders unter solchen Umständen zeigte nur die Schwester Cornelia; zunächst, weil sie, seit Wolfgang’s Entfernung der alleinige Gegenstand von Herrn Johann Kaspar’s Pädagogarchie, hoffen mochte, daß ihr daher rührender Schmerz jetzt wieder nur noch ein halber, weil getheilter, sein würde. Das Mädchen ist ein seltsames, zweifelsohne krankhaft, seelisch-krankhaft angelegtes Wesen gewesen: liebebedürftig, glücksuchend, aber nicht dazu angethan, weder glücklich zu machen noch glücklich zu sein. Dermalen voll Verbitterung gegen den Vater, den sie höchst ungerecht beurtheilte, und ohne innige Beziehung zur Mutter, wandte sie sich mit fast leidenschaftlicher Zärtlichkeit dem kranken Bruder zu, welcher, dieser Theilnahme froh, natürlich auch nichts that, um der Schwester ihre Grillenhaftigkeit abzugewöhnen.

Die Genesung des Leidenden zog sich lange hinaus, die mancherlei Rückfälle eingerechnet, bis in den Frühling 1770. Es war eine trübe Zeit für Wolfgang; nur dann und wann brach ein Lichtstrahl der Anregung, der Hoffnung, der Genugthuung durch das Gewölke körperlicher Leiden und geistigen Unbehagens. Die ernste Miene des Vaters war dem Sohne ein Vorwurf, die Sorge der Mutter ein Leid, das heftig bewegte Wesen der Schwester doch auch keine rechte Erquickung. Die Erinnerungen an die mannigfache geistige Reg- und Strebsamkeit Leipzigs machten den jungen Mann ungerecht gegen seine Vaterstadt, welcher er Bildungsmangel und deren Frauenwelt insbesondere er Anmuthslosigkeit vorwarf. Letzteres wohl nur, weil ihm die Anmuth des Leipziger Aennchen-Kätchens noch immer in der Seele umging. Auch dann noch und nur um so mehr, nachdem sich das geliebte Mädchen mit einem Andern verlobt hatte. In einem seiner Briefe an die also ihm Verlorene brach er in die Worte aus:

„Es ist eine gräßliche Empfindung, seine Liebe sterben zu sehen. Ein unerhörter Liebhaber ist lange nicht so unglücklich als ein verlassener; der erstere hat noch Hoffnung und fürchtet wenigstens keinen Haß, der Andere, ja der Andere – wer einmal gefühlt hat, was es ist, aus einem Herzen verstoßen zu werden, das sein war, der mag nicht gern daran denken, geschweige davon reden.“

Noch zu Ende des Jahres 1769 hatte er den Verlust nicht verschmerzt. Käthchen beantwortete im Freundschaftstone seine Briefe. Aber im December schrieb er:

„Ich mag Ihre Handschrift nicht mehr sehen, so wenig als ich Ihre Stimme hören möchte; es ist mir leid genug, daß meine Träume so geschäftig sind.“

Es bedurfte einer neuen, mächtigeren Liebe, um die Erinnerung an das reizende Käthchen aus seinem Wachen und Träumen wegzuwischen. Dermalen, in der seinem zweiten Ausfluge in die Welt vorhergehenden Zwischenzeit, war er auch als Wachender gar viel in träumerischer Stimmung. Das kam insonderheit daher, daß er, dem sanften Zwange von seiten seiner altjungferlich schönseligen Freundin Susanna Katharina Klettenberg nachgebend, angelegentlich mit religiösen Fragen sich zu schaffen machte, im Labyrinth der Theosophie und Mystik, der Kabbalistik und Alchymie herumdämmerte und, ohne es selbst zu wissen, gar nicht unbedeutende Vorstudien zum „Faust“ trieb. Glückskindern muß eben Alles förderlich sein, während Unglücklichen Alles zum Mißgeschicke sich wendet.

Sein Unbehagen am Vaterhause und an der Vaterstadt suchte unser langsam Genesender in der Beschäftigung mit physikalischen und chemischen Experimenten zu vergessen. Die dichterische Hervorbringung war wenig ausgiebig: an der Handschrift der beiden aus Leipzig mit heimgebrachten Lustspiele wurde herumgefeilt, dann und wann ein weltlich Lied – etwa ein Hochzeitlied für Käthchen – entworfen oder auch im Sinne der Freundin Susanna Katharina ein geistliches gedichtet. So eins ist uns erhalten und zeigt uns, wie der junge Poet die ihm überkommenen christlich-frommen Anschüttungen pantheistisch zu durchgeistigen und die Sehnsucht und den Schmerz der Creatur schon mit echt Goethe’scher Gefühlsinnigkeit auszusprechen wußte:

„O, laß doch immer hier und dort
Mich ewig Liebe fühlen!
und möcht’ der Schmerz nicht also fort
Durch Nerv und Adern wühlen.
Könnt’ ich doch ausgefüllt einmal
Von Dir, o Ew’ger, werden –
Ach, diese lange tiefe Qual
Wie dauert sie auf Erden!“

Wie ein heller und warmer Sonnenblick fiel in diese Frankfurter Wolkenzeit die Begegnung Wolfgang’s mit einem großen Manne. Pasquale Paoli, der Held und Ordner der corsischen Republik, kam, nachdem er seine geliebte Heimathinsel der Uebermacht französischer Eroberungsgier hatte erliegen sehen müssen, auf seinem Wege in’s Exil 1769 durch Frankfurt. Hier sah ihn Goethe im Bethmann’schen Hause und konnte den Eindruck gewinnen, daß groß sein unglücklich sein heißt. Nahezu vierzig Jahre später sollte er vor einen corsischen Heros von ganz anderem Schlage hintreten und einen nicht minder bedeutenden Eindruck machen, als empfangen. Denn von jenem 2. October von 1808 an, wo Napoleon, der corsische Schlachtenkaiser, zu Erfurt mit dem deutschen Dichterkaiser so scharfsinnig über dessen Werther verhandelte, beugte sich Goethe ehrfurchtsvoll vor dem Genie des großen Despoten, wie sich dieser vor dem Genie des Dichters gebeugt hatte, indem er auf den in Erfurt von ihm Weggehenden wies mit dem echt napoleonischen Wort an seine Marschälle und Minister. „Voilà un homme!“

An ihrem bekanntlich grundverschiedenen Urtheil über Napoleon kann man, beiläufig bemerkt, auch wieder den Unterschied zwischen Goethe und Schiller messen, welcher letztere dem Eroberer von Anfang an abgewandt war und abgewandt blieb, weil er in demselben die „reinmenschlichen Züge“ vermißte. Er faßte die Erscheinung Napoleon’s subjectiv und ethisch. Goethe dagegen objectiv und ästhetisch. Was Goethes Urtheil vornehmlich bestach, war zweifelsohne der kosmopolitische Schein, welchen sich der Kaiserkomödiant zu geben verstand. Der Kosmopolitik fühlte sich ja unseres Dichters eigenste Natur allzeit wahlverwandt; denn obzwar er beim wirklichen Beginne seiner Laufbahn einen nationalen Anlauf nahm – „Götz von Berlichingen“ – so ist doch bald die Weltbürgerei seine Politik geworden und bis zu seinem Ende geblieben, gerade wie in vollständiger Parallele der Pantheismus seine Religion ward und blieb. Schillers Weg ging in umgekehrter Richtung: er hob mit leidenschaftlicher Weltbürgerlichkeit an und endigte als glühender Patriot. Dem Auge des Sehers, welcher all seiner Subjectivität zum Trotze den geschichtlichen Gestalten und Ereignissen doch tiefer auf den Grund sah als Goethe, entging es nicht, daß der napoleonische Kosmopolitismus nur die einer grenzenlosen, weltverschlingungsgierigen Selbst- und Herrschsucht vorgesteckte Maske war, und je deutlicher Schiller das erkannte, um so stärker fühlte er sich getrieben, auf den Gedanken des Vaterlandes sich zu stellen, als auf den festen Boden, auf welchem allein die theuersten Güter der Nation gegen eine wie ein tolles Feuer um sich fressende Fremd- und Zwingherrschaft vertheidigt werden könnten. Das ist der Sinn jenes schönsten Testaments, welches jemals ein Prophet seinem Volke hinterlassen hat, der Sinn von Schillers „Tell“ …

Derweil hatte Herr Johann Kaspar immer deutlicher zu merken gegeben, daß ihm des Sohnes dichterische, künstlerische, theosophische und naturwissenschaftliche Anwandlungen, Neigungen und Strebungen schon recht seien, daß es aber denn doch an der Zeit wäre, auch für die Praxis des Lebens etwas Ernstlicheres zu thun und demzufolge die unterbrochene Juristerei wieder aufzunehmen. Der Wolfgang war, wenn auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_192.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)