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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Parkes führte und der voraussichtlich noch sicher war. Im schlimmsten Falle fand sie in den nach jener Richtung hin gelegenen Beamtenwohnungen Schutz und Begleitung. Wie nothwendig hier Beides war, hatte sie freilich nicht gewußt, als sie, nur der Eingebung des Augenblickes folgend, ganz allein die Reise und die Fahrt hierher unternahm, und auch jetzt kannte sie noch nicht den ganzen Umfang der Gefahr, der sie sich mit diesem Gange aussetzte. Die Möglichkeit einer Gefahr war es nicht, die ihren Wangen diese erhöhte Farbe, ihren Augen dieses unruhige Leuchten gab und ihre Brust so heftig pochen machte, daß sie bisweilen stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen; es war die Furcht vor der Entscheidung. Der schwere Traum, der sich auf sie niedergesenkt, als sie das Haus ihres Gatten verließ, er hatte nicht weichen wollen während der ganzen Zeit der Trennung. Nicht die Heimath und die Liebe der Ihrigen, nicht all’ die Stimmen eines neuen Lebens und Glückes hatten sie daraus erwecken können; der Traum war geblieben mit seinem dumpfen Schmerz und seinem dunklen Sehnen. Jetzt endlich sollte das Erwachen kommen, und alle Empfindungen, alle Gedanken der jungen Frau drängten sich zusammen in der einen Frage: „Wie wird er Dich empfangen?“

Sie hatte soeben ein kleines einzelnstehendes Haus erreicht, das gleichsam den äußersten Vorposten der Werke bildete, als ihr von dort her eilig ein Mann entgegenkam, der bei ihrem Anblick mit dem Ausdrucke sichtbaren Schreckens zurückfuhr.

„Gnädige Frau! Um Gotteswillen, wie kommen Sie hierher, und das gerade heute?“

„Ah, Schichtmeister Hartmann, Sie sind es!“ sagte Eugenie ihm entgegentretend. „Gott sei Dank, daß ich gerade Ihnen begegne! Es sind Unruhen auf den Werken ausgebrochen, wie ich höre. Ich habe meinen Wagen dort drüben gelassen; der Kutscher wagte nicht weiter zu fahren. Ich will jetzt zu Fuß hinüber nach dem Hause.“

Der Schichtmeister machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Das können Sie nicht, gnädige Frau; das geht jetzt nicht. Vielleicht morgen, vielleicht gegen Abend, nur jetzt nicht.“

„Weshalb nicht?“ fuhr Eugenie erbleichend auf. „Ist unser Haus bedroht? Mein Gatte –“

„Nein, nein, Herrn Berkow gilt es heute nicht; der ist im Hause mit den Beamten. Diesmal ist’s unter uns selber losgebrochen. Ein Theil der Knappschaft hat heute Morgen die Arbeit wieder aufnehmen wollen; mein Sohn –“ hier zuckte es schmerzlich über das Gesicht des alten Mannes, „nun, Sie werden ja am Ende auch wissen, wie er zu der Geschichte steht – Ulrich wüthet darüber. Er und sein Anhang haben die Leute mit Gewalt zurückgetrieben und halten nun die Schachte besetzt. Die Anderen wollen sich das nicht gefallen lassen und rotten sich nun auch zusammen; die ganzen Werke sind in Revolte, ein Camerad ist gegen den andern! O du barmherziger Gott, was wird das noch geben!“

Der Schichtmeister rang die Hände. Die junge Frau vernahm jetzt von drüben her wüstes Lärmen und Toben, das trotz der Entfernung deutlich zu ihr herüberdrang.


(Fortsetzung folgt.)




Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen
Von M. M. von Weber.
(Schluß.)


III.

Die vorstehenden statistischen Daten haben uns gelehrt, daß die Gefahr für Leib und Leben beim Eisenbahnbetriebe durchaus nicht ausschließlich an die Schnelligkeit der Fahrt, oder die Dichte des Verkehrs oder dessen Form geknüpft sei. In der That wirken diese Momente, wie erwähnt, nur dann verhängnißvoll, wenn ihre Einflüsse bei der Construction der Bahn und beim Organismus ihres Betriebes nicht genügend vorgesehen wurden, beides ihnen nicht gemäß ist. In noch weit höherem Grade ist dies der Fall bei den weiteren, die Betriebssicherheit beeinflussenden Elementen, der Construction der Stationen und der Organisation der Betriebsleitung.

Es giebt wenig Momente im Culturleben, wo die moralische Individualität der Nationen, ihre spezielle Begabung für dieses oder jenes Fach so drastisch zur Darlegung käme, wie bei diesen Elementen des Eisenbahnwesens. Zugleich tritt, in lehrreichster Weise, die Erscheinung zu Tage, daß durch Organisationen und Constructionssysteme, welche specifisch die Herbeiführung des höchstmöglichen Sicherheitsmaßes bezweckten, aber auf praktisch ungenügend begründete Speculationen basirt waren, gerade das Gegentheil des beabsichtigten Zweckes erreicht wurde.

Die ersten deutschen Eisenbahnstationen waren nach englischen Mustern angeordnet; die ersten Wagen für deutsche Bahnen kamen von England. Die ersten Unfälle, die sich auf deutschen Bahnen ereigneten, wurden durch fehlerhafte Manipulationen der Drehscheiben herbeigeführt; das große Eisenbahnunglück bei Versailles schien durch den Bruch einer Achse an einer vierrädrigen Maschine verursacht zu sein. Diese Thatsachen genügten, um die Anwendung von Drehscheiben zur Manipulation der Züge und Wagen auf Stationen streng zu vervehmen und als Sicherheitsevangelium zu verkündigen, daß alle Bewegung der Fuhrwerke von Gleis zu Gleis nur mittels Ausweichen erfolgen dürfe; andererseits führten sie zu dem Irrwahne, daß ein Fuhrwerk nur auf drei oder mehr Achsen und sechs oder mehr Rädern sicher rolle. Aus diesen falschen Grundsätzen wuchsen die Constructionen jener Ungeheuer von sechs- und achträdrigen Wagen, die so lange alpschwer auf dem deutschen Eisenbahnbetriebe lasteten und die Anwendung jeder gesunden Betriebsmanipulation unmöglich machten.

Es kam endlich noch die gedankenkurze „Ideenmode“ hinzu, welche die kostbareren Transportgüter eigentlich nur in Wagen für sicher erklärte, die mit festen Dächerkasten versehen sind. Hierdurch wurde die Anwendung aller mechanischen Hebevorrichtungen, wie hydraulischer Dampf- und Handkrahne und anderer Lastenbewegungsapparate aller Art etc., durch welche diese Geschäfte um ein Vielfaches beschleunigt und vereinfacht und vor Allem sicherer gemacht werden, unmöglich, während man in Frankreich, England, Belgien etc. dieselben Güter in offenen, nur mit guten wasserdichten Decken versehenen Wagen ohne jeden Anstand transportirt und sich dadurch die Verwendbarkeit jener mächtigen Betriebshülfsmittel sichert. Hiermit hat man alle Elemente beisammen, durch welche deutsche und österreichische Eisenbahnstationen zu wahren Schlachtfeldern werden, auf denen jährlich Hunderte von braven und muthigen Beamten und Arbeitern die redliche Ausübung ihrer Pflichten mit Leib und Leben bezahlen.

Durch die Verbannung der Drehscheibenreihen, vermittels welcher auf englischen, französischen, belgischen Stationen auf kleinsten Räumen Züge zusammengestellt und auseinandergeführt, einzelne Wagen beliebig aus in Ruhe bleibenden Zügen herausgenommen, beliebige Zugtheile ohne Störung der anderen Manipulationen, von Gleis zu Gleis, von Ladeplatz zu Ladeplatz gesetzt und fast alle Betriebsbewegungen selbstständig aus den ihnen eigens zugewiesenen, sparsam beschränkten, concentrirten Räumen, ohne hastige, gefährliche Schnellbewegung vorgenommen werden können, wurden die deutsch-österreichischen Stationen zu jenen unübersehbaren Gleiswirrsalen und wüsten Flächen auseinandergezogen, auf denen keine einheitlich geleitete Betriebsmanipulation mehr möglich und das fortwährende Mißverständniß, die Hauptquelle der Unsicherheit, heimisch ist. Um einzelne Wagen von Gleis zu Gleis zu stellen, einen Zug in einige Theile zu zerlegen, einige Fuhrwerke von oder nach einem Ladeplatze zu bringen, oder sie an rechter Stelle in einen Zug zu schalten, müssen oft Hunderte von Wagen, um viele Meilen weit, durch Locomotiven verschoben werden, die ihre Fahrgeschwindigkeit umsomehr zu vergrößern haben, je stärker der Verkehr, je größer die Zahl der in kurzen Zeiträumen auf einander zu expedirenden Züge wird; Hunderte von Weichen müssen geöffnet und geschlossen, Hunderte von Malen die Fahrtrichtungen der Maschinen gewechselt, Hunderte von Signalen gegeben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_274.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)