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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 21.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Da auf einmal tiefe athemlose Stille! Der Lärm brach so jäh ab, als habe ein Machtwort von oben ihm Schweigen geboten; die wildbewegten Gruppen hielten inne; die Menge wogte zurück, als habe sie plötzlich einen Widerstand gefunden, und alle Augen, alle Gesichter wandten sich nach einer Richtung – die Eingangsthür war geöffnet worden, und der junge Chef auf die Terrasse getreten.

Die Stille dauerte nur wenige Secunden; dann wich die augenblickliche Ueberraschung einem erneuten Wuthausbruch, furchtbarer als der erste, und jetzt hatte er ein besseres Ziel vor Augen. All’ dieses tobende Geschrei, all’ diese wuthverzerrten Gesichter und erhobenen Arme, die vorhin das Haus und dessen Insassen bedrohten, wendeten sich jetzt gegen einen Einzigen; aber dieser Eine war der Chef, der Herr der Werke, und was der Vater mit seinem industriellen Genie, mit seiner zähen Ausdauer und tyrannischen Willkür in Jahrzehnten nicht erringen konnte, das hatte der Sohn in wenigen Wochen erzwungen: die unbedingte Autorität seiner Persönlichkeit; sie wirkte selbst hier noch, wo alle Bande der Ordnung gelöst waren. Er ließ den Sturm ruhig austoben; die schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, das große Auge fest und klar auf die Menge gewendet, aus der jeder Einzelne ihm an Kraft überlegen war, und vor der ihn nichts schützte, als nur diese Autorität, stand er ihr allein und waffenlos gegenüber; aber er stand da, als müsse sich die brandende Woge der Empörung an ihm brechen.

Und sie brach sich wirklich. Das Toben verstummte allmählich; es ward zum Rufen, dann zum Murren; endlich legte sich auch dieses, und nun erhob sich Berkow’s Stimme, anfangs noch unverständlich in der ihn umfluthenden Bewegung, noch öfter unterbrochen durch den Tumult, der stoßweise immer wieder von Neuem anschwoll; aber ebenso oft sank er auch machtlos wieder zusammen, und endlich schwieg er ganz und man hörte nur die Stimme des jungen Chefs noch, die klar, laut und deutlich herübertönte und auch den am fernsten Stehenden vernehmbar blieb.

„Gott sei Dank!“ murmelte Schäffer, indem er sich die Stirn mit dem Taschentuche trocknete, „jetzt hat er sie im Zügel. Das knirscht noch und bäumt sich, aber es gehorcht! Sehen Sie nur, gnädige Frau, wie die Bewegung sich legt, wie Alles zurückweicht. Sie geben wahrhaftig die Terrasse frei – und da fallen auch die Steine zu Boden. Wenn der Himmel uns jetzt nur den Hartmann fernhält, so ist die Gefahr beseitigt.“

Er wußte nicht, mit welcher Todesangst Eugenie den Wunsch im Innern wiederholte. Bisher hatte sie immer noch in der Menge vergebens die eine gefürchtete Gestalt gesucht, und so lange die nicht sichtbar war, hielt sich ihr Muth noch aufrecht, so lange glaubte sie Arthur noch sicher; aber jetzt war es vorbei mit der Sicherheit und mit der Hoffnung. Ob das plötzliche Aufhören des Tobens, das er selbst mit vollster Absicht entfesselt, den Vermißten hergerufen, ob eine Ahnung dessen, was geschah, ihn im entscheidenden Augenblick herbeizog – wie aus der Erde emporgestiegen, stand Ulrich Hartmann plötzlich hinten am Parkgitter, und ein einziger Blick zeigte ihm, wie die Sache stand.

„Feiglinge, die Ihr seid!“ donnerte er seinen Cameraden zu, während er sich, von Lorenz und dem Steiger Wilms gefolgt, einen Weg durch die dicht geschlossenen Massen bahnte. „Ahnte ich’s doch beinahe, daß Ihr Euch hier wieder in seinen Netzen fangen laßt, während wir erkunden, wohin sie die Gefangenen gebracht haben. Wir haben es jetzt heraus! Dort im rechten Erker sind sie im Erdgeschoß, dicht hinter dem großen Saale; dorthin muß sich der Angriff richten. Schlagt die Spiegelfenster ein! so brauchen wir nicht erst die Thür zu stürmen.“

Noch gehorchte Niemand der Aufforderung, aber wirkungslos blieb sie nicht. Es giebt nichts Wankelmüthigeres, Willenloseres als eine aufgeregte Menge, die gewohnt ist, sich von der Entschlossenheit eines Mannes leiten zu lassen. In all’ dem Toben und Lärmen vorhin war doch eine gewisse Planlosigkeit und Unentschiedenheit gewesen, die es nicht zum directen Angriffe kommen ließ. Das Auge, der Arm des Führers hatte gefehlt; jetzt war er da, und in dem Augenblicke, wo seine Hand die Zügel wieder ergriff, gab er ihnen auch eine bestimmte Richtung. Man wußte jetzt, wo die Gefangenen sich befanden; man kannte den Weg zu ihnen – das weckte die kaum überwundene Gefahr auf’s Neue.

Ulrich kümmerte sich zwar im Augenblick nicht viel darum, ob seinem Befehle Folge geleistet wurde. Er hatte sich Bahn gebrochen bis zur Terrasse und stand jetzt dicht vor dem jungen Chef, mit dem ganzen Trotz und Stolz seiner unbändigen Natur, mit seiner riesenhaften Gestalt fast um Kopfeslänge hinausragend über alle die Anderen. Es war der geborene Führer der Massen, dessen wilde Energie, dessen despotischer Wille sie in blindem Gehorsam mit sich fortriß und der trotz Allem, was geschehen war und vielleicht noch geschah, doch für den Augenblick unumschränkt über sie gebot. Der ganze Sieg, den Arthur errungen hatte, war in Frage gestellt, wenn nicht vernichtet, durch das bloße Erscheinen dieses Mannes, dessen Persönlichkeit mindestens ebenso mächtig wirkte, wie die seinige.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_333.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)