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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

er auch der zitternden Lippen nicht ganz Herr werden, so zwang er doch die Finger zum pünktlichsten Gehorsam. Und als der letzte Ton verhallt war, grüßten ihn freundliche Augen von allen Pulten und sein Lehrer sprach hochaufathmend ihm seine Zufriedenheit aus.

Da flog ein Glücklicher heim, doppelt glücklich, weil er ein paar Freibillets für seine Eltern mit heimbrachte: die sollten nun neben seinem Auftritt auch ein schönes Theaterstück sehen, ein Fest, das ihnen sonst nicht zugänglich war.

Der Nachmittag verging rasch. Um sechs Uhr begann die Vorstellung. Eine halbe Stunde vorher traten die Eltern, den Sohn in der Mitte, den schweren Weg an. Drei arme Menschenherzen pochten ungestüm in peinlichster Angst. Keines sprach ein Wort. Im Theater trennten sie sich. Die Eltern gingen auf die Galerie, der Knabe auf die Bühne, wieder hinter die Coulissen vom Morgen. Jetzt war Alles beleuchtet und voll Leben von dienendem und costümirtem Personal. Auch auf ihn rannte Einer zu: „Du bist ja noch nicht geschminkt, mein kleiner Virtuos. Komm, ich werde Dir die Rosen der Gesundheit auf Deine Wangen malen, die Dein Flötenblasen bereits verscheucht zu haben scheint.“ Und so strich er ihm ein gehörig dickes Roth auf die Backen und verließ ihn dann mit den Worten: „So, nun kannst Du Dich nicht blos hören, sondern auch sehen lassen.“ Unbeachtet stand nun der arme Junge in seiner abermals furchtbar aufsteigenden Angst von aller Welt verlassen da. Und wieder kam das Glück zu ihm, aber eine Engelsgestalt.

In dem Stück des Abends war eine Kinderrolle, die ein ebenfalls elfjähriges Mädchen spielte. Ihr Abgang nach einer Scene, die ihr rauschenden Applaus einbrachte, führte sie in die Coulisse des angstvollen Jungen. Sie stellte sich ihm gegenüber und heftete die Blicke neugierig auf ihn und sein Instrument. So betrachteten Beide einander und sprachen kein Wort. Im Herzen des Knaben sprach’s aber um so lauter: „Sieh, das ist nur ein Mädchen und spielt ihre Rolle so schön und furchtlos, und Du, ein Mann (!), stehst da und bebst?“ Der Muth erwachte, die Scham weckte ihn auf. Als nun aber der unerbittliche Vorhang fiel, der Orchesterdiener wieder sein Pult hinstellte und vor dem verhängnißvollen Augenblick nun kein Entrinnen mehr möglich war, da wollte selbst des alten Genast (nun haben wir doch verrathen, daß wir in Weimar sind), des Regisseurs Zuspruch nicht verfangen. „Kleiner, nur Muth!“ sagte er, „Du sollst ja in der Probe recht schön geblasen haben. Ich gebe jetzt das Zeichen zum Aufziehen des Vorhangs. Dann gehe nur beherzt hinaus, mache Deine zwei Verbeugungen, die erste vor der Hofloge, die andere vor dem Publicum, und dann fange in Gottes Namen an.“ Ach, das Zeichen erklang, der Vorhang rollte hinauf – und alle Schrecken der Welt fielen auf den armen Jungen. Da flüsterte die Kleine mit bewegter Stimme ihm zu: „Ich wünsche Glück“ – und der arme Knabe war gerettet! Die drei Wörtchen wirkten elektrisch auf ihn, wie das Geschenk eines Wunders belebte plötzlich ihn der Muth: sie hörte ihm theilnehmend zu, sein Auge sah nur sie und er blies nur für sie.

Es ging gut. Stürmischer Beifall rauschte ihm nach jedem Satz in die Ohren. Und als nun der letzte Ton verhallt, der letzte linkische „Diener“ für den letzten Applaus gemacht war, eilte das glücklichste Menschenkind dieses Augenblickes in die Coulisse zurück. Wohl umringten ihn Schauspieler und Schauspielerinnen, die ja Alle selbst die Angst des ersten Auftretens bestanden hatten, und überhäuften ihn mit Liebkosungen und Glückwünschen – aber sein Herz zog ihn vor Allem zu seiner kleinen Collegin. Sie stand noch auf ihrem Platze, und wenn sie auch kein Wort sagte, so sah sie ihn doch mit ein Paar blauen Augen an, aus denen die helle Freude strahlte. Wie das die Brust des Knaben hob! Er fühlte, sie achtete ihn, und das beglückte ihn erst vollständig.

Erst jetzt konnte er mit ruhigerer Theilnahme dem weiteren Verlaufe des Stückes zusehen, denn er behauptete natürlich seinen Platz in der Coulisse, die zweimal eine so schreckliche Marterstätte für ihn gewesen war. Die Kleine auch. Als aber der Vorhang wieder aufrollte, sagte sie, wie zu sich selbst, leise: „Ich muß nun in die andere Coulisse,“ worauf sie langsam fortging. Und im Knaben sprach’s: „Du mußt auch in die andere Coulisse.“ So stand er ihr wieder stumm gegenüber, und sie schien das ganz in der Ordnung zu finden. Plötzlich neigte sich ihr liebliches Lockenköpfchen, und auf ihr Stichwort zu lauschen, und als es kam, hüpfte sie hinaus auf die Bühne und spielte so herrlich, daß sie abermals rauschenden Beifall erntete; und nun war es an dem Knaben, ihr sein Entzücken mit funkelnden Augen entgegen zu leuchten. Im letzten Act mußte sie wieder in die andere Coulisse, der kleine Virtuos natürlich auch. Und nun fiel der Vorhang zum letzten Mal; Alles ging; auch die zwei Glücklichen nickten sich den Abschied zu. Sein Engel verschwand, denn sein Engel war sie gewesen, nur einmal, aber in tiefster Noth.

Vor der Thür erwarteten die Eltern den Sohn. Die Mutter küßte ihn mit einer Freudenthräne im Auge; der Vater drückte ihm die Hand und sagte: „Es ist gut gegangen. Du hattest wohl große Angst?“ – „Ach ja, lieber Vater!“ sprach der Knabe, aber die Mutter behauptete: „Meine Angst war doch noch größer!“ Wer glaubt dies nicht dem Mutterherzen?

Nun ging’s heim. Es war böses Stöberwetter, aber die Drei fühlten wenig davon; die Freude stürmte wärmend durch ihre Adern. Und splendid feierten sie den festlichen Abend, denn es wurde nicht nur warme Suppe gekocht, sondern es gab sogar noch Butter und Käse zum oft genug trockenen Brode.

Das ist die Geschichte. – Was ist aus diesem armen Knaben geworden? Ein Mann, hochgeehrt als berühmter Meister auf seinem Instrument, als fruchtbarer und geschätzter Componist und als einer der ausgezeichnetsten Schriftsteller für sein Fach, ein noch heute geistes- und herzensfrischer Greis, der auf ein Leben voll erhebender Erinnerungen zurückblickt und am nächsten 30. Mai seinen sechsundsiebzigsten Geburtstag feiert: der Professor Johann Christian Lobe in Leipzig.

Welche Gunst des Schicksals muß gewaltet haben, um ein Kind der Armuth auf so hohe Stufe der Bildung und des Wissens zu erheben? Ja, eine Gunst des Schicksal war’s, nämlich die, daß in dem schwächlichen Körper desselben ein so starker Wille herrschte, der es dem Knaben ermöglichte, durch sich selbst Das zu werden, was aus ihm geworden ist. Außer für die Fertigkeit auf seinen Instrumenten hat Lobe keinen andern Lehrer gehabt, als eben sich selbst. Dieses in unserer an Bildungsanstalten und Lehrern weit reicheren Zeit, als die damalige war, auch um so seltenere Beispiel von rastlos thätiger Willenskraft verdient es wohl, daß wir noch Einiges von ihren Wegen und ihrem Walten erzählen.

Lobe’s Vater war Illumineur für das Bertuch’sche Bilderbuch; aber er spielte auch mehrere Instrumente, namentlich Clarinette, Violine und Flöte, und gab sehr frühzeitig dem Sohne den ersten Unterricht. Das musikalische Talent desselben zeigte sich bald als ein ungewöhnliches. In einer kleinen Stadt wird so etwas leicht weiter verplaudert, und so erfuhr es auch die junge Erbprinzessin, die russische Großfürstin Maria Paulowna, die selbst eine treffliche Clavierspielerin war. Sie bestellte den Musikdirektor Riemann zu dessen Lehrer, und unter diesem geschah 1808 sein erstes Auftreten in seinem elften Jahre. Als bald nachher der ehemalige Cantor an der Leipziger Thomasschule A. E. Müller, als Hofcapellmeister nach Weimar kam, übergab man ihn diesem und als dessen Schüler trat er 1811 im Leipziger Gewandhaus auf. Rochlitz schrieb damals in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung: „Er spielte nicht wie ein Knabe, sondern wie ein Mann.“ So ist es nicht zu verwundern, daß derselbe noch als Knabe, das heißt unmittelbar nach seiner Confirmation, in der Weimarischen Hofcapelle angestellt wurde.

Hundert Andere hätten an Lobe’s Platz hiermit ihr Ziel erreicht gehabt, denn das ist ja in der Regel die Anstellung. Lobe fühlte sich dagegen wie der Vogel im Käfig. Sein Sinn stand hinaus in’s große Leben, seine wiederholten Gesuche um Entlassung waren jedoch vergeblich, und so hüpfte er denn auf seinen Paar Stäbchen im engen weimarischen Häuschen herum, aus purer Dankbarkeit für die in der Kindheit genossenen fürstlichen Wohlthaten, und bewährte diese deutsche Treue volle fünfunddreißig Jahre. Aber wie er diese lange Zeit für sich und die musikalische Welt ausgenutzt hat, das ist’s eben, was wir näher betrachten wollen.

Es versteht sich von selbst, daß ein Knabe, welcher alle seine schulfreie Zeit mit musikalischen Uebungen verbringen mußte, selbst das bescheidene Maß von Kenntnissen und Fähigkeiten nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_338.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)