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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Die Anmaßung
des sogenannten „natürlichen Verstandes“ oder des „gesunden Menschenverstandes“.


„Das sagt mir mein natürlicher Verstand!“ hört man unendlich oft behaupten und in der Regel von Personen, die sich sehr klug dünken und meinen, daß, weil sie über die gewöhnlichen Ereignisse des täglichen Lebens, besonders über Geld- und Geschäftsangelegenheiten, besser als viele Dummköpfe zu urtheilen verstehen, ihnen auch ein Urtheil in Fällen zustände, welche außer dem Bereiche ihres Hauses und Comptoirs, ihrer Schreibstube oder Werkstatt liegen. Besonders gern stellen obige Behauptung Frauen auf, welche, weil sie in der einen oder andern Richtung Anerkennenswerthes leisten, nun glauben, daß sie auch in Dingen miturtheilen können, zu deren bloßem Verständniß ihnen das ABC abgeht. Bei den allermeisten dieser sich selbst überschätzenden Klugen, welche sich, weil sie nicht gerade auf den Kopf gefallen sind, mit ihrem sogenannten natürlichen, für ihren Wirkungskreis hinreichenden praktischen Verstande brüsten, ist dieser Verstand aber meistens „Unverstand“, der sich ganz ungenirt an die Beurtheilung von Vorkommnissen wagt, bei denen eine genaue Kenntniß von bestimmten Thatsachen und Gesetzen (vorzugsweise von Naturgesetzen) ganz unerläßlich ist, die ihnen abgeht und über die sie wegen unzureichenden Wissens gar nicht zu denken vermögen. So ist es zum Beispiel grenzenlos anmaßend, wenn Leute, was so oft geschieht, nur mit ihrem sogenannten natürlichen Verstande über Kindererziehung und Schulangelegenheiten, über Phrenologie, thierischen Magnetismus, Spiritismus, Heilkunst, Materialismus, Darwinismus u. s. f. zu urtheilen sich unterstehen, da dies ohne bestimmtes und gründliches Wissen doch gar nicht möglich ist. Daß ihnen ihr natürlicher, für Begriffe der gemeinen Erkenntniß zulangender Verstand sagte: „Hiervon verstehe ich nichts, und darum will ich lieber schweigen und mich von Sachverständigen belehren lassen“ – ja, das kommt fast gar nicht vor. Viele sind wirklich der Ansicht: Wem Gott ein Amt giebt, Dem giebt er auch Verstand; dieser ist aber meistens auch darnach. Deshalb hört man denn so oft den neunmalklugen Gevatter Schuster, Schneider und Handschuhmacher – womit übrigens alle Sachunverständigen bezeichnet werden sollen, die sich als Sachverständige dünken und in Dinge hineinreden, die sie nicht verstehen, mögen es nun Professoren oder Doctoren, Räthe oder wirkliche Schuster sein – nicht nur im gewöhnlichen Leben, sondern auch in Versammlungen, Collegien, Parlamenten etc., sowie in Schriften, ganz unverständige Urtheile und haarsträubenden Unsinn zu Tage fördern.

Verstand bringt der Mensch nicht mit auf die Welt, nur die Anlage dazu und diese von verschiedener Güte. Der Verstand wird erst in den geborenen Menschen ganz allmählich hineinerzogen, leider zur Zeit aber nicht in der Weise und in dem Grade, wie es sein könnte und sein sollte. Die Möglichkeit, verständig werden zu können, hängt nun aber davon ab, daß der Mensch einen Apparat besitzt, dessen Arbeit der Verstand ist, und der mehr oder weniger gut arbeiten lernen kann, je nachdem er mehr oder weniger vollkommen construirt (beanlagt) ist und in seinem Baue und seiner Ernährung naturgemäß erhalten wird. Dieser Verstandesapparat ist das Gehirn (in der Schädelhöhle des Kopfes) mit den Sinnesorganen, den Zubringern der Verstandesspeise. Die Verstandesarbeit, deren Zustandekommen uns zur Zeit noch ganz unaufgeklärt ist, kann nun aber das Gehirn nicht etwa ohne Weiteres so ganz von selbst verrichten, sondern es muß dieselbe, wenn sie etwas werth sein soll, erst und zwar nach bestimmten Regeln (durch Gewöhnung, Erziehung) erlernen, geradeso wie die Beine das Tanzen und die Finger das Clavierspiel. Zur Erlernung des Verstandes sind aber die Eindrücke, welche durch die Sinne, besonders durch Auge und Ohr, von der Außenwelt her in das Gehirn eingeführt werden, ganz unentbehrlich, und man sagt deshalb auch: „Durch der Sinne Pforten zieht der Geist (Verstand) in unseren Körper (Gehirn) ein.“ Wir können nichts wissen, noch erfahren als Das, was uns zuvor sinnlich (objectiv) erschienen ist, und aus diesen Erscheinungen leiten wir erst (subjectiv) Verstandesbegriffe ab; deshalb müssen sich alle unsere Vernunftschlüsse auch auf Thatsachen (objective Erkenntniß) stützen. Die einzige Wahrheit ist die empirische, durch die Sinne erworbene und auf Thatsachen beruhende.

Ebenso unentbehrlich wie die Sinneseindrücke ist aber auch eine regelrechte Anleitung zur richtigen Verarbeitung und Benutzung dieser Sinneseindrücke, um innerhalb des Gehirns der Verstandesbildung dienen zu können. Die Fähigkeit, richtig zu denken, muß mit vieler Mühe und vermittelst vieler Kenntnisse erlernt werden, denn der Verstand besteht aus Erlerntem und Begriffenem und es kann Niemand über sein Wissen hinaus urtheilen. Eine richtige Anleitung zur Verstandesbildung kann nun aber blos von Sachverständigen gegeben werden und sie muß sich natürlich mit den Fortschritten im Wissen und Können der Menschheit fort und fort ändern, bessern und mehren. So wird dann alles Verständige durch Schrift, Wort und That von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt. Die Menschheit wird aber dadurch immer klüger, daß die Nachkommen auf den Errungenschaften ihrer Vorfahren fortbauen. Dem Fortschritt fällt dann die Aufgabe zu, in neuen Jahrhunderten die Dummheit der früheren zu beseitigen.

Leider werden, wie früher so auch jetzt noch, von verschiedenen Seiten her die zeitgemäßen Fortschritte in der Verstandescultur aufgehalten und dem Menschengehirne systematisch eine falsche Anleitung zum Arbeiten in Verstandesangelegenheiten aufgezwungen, so aber der Aufklärung mächtige Hindernisse in den Weg gelegt. Dies beweist recht deutlich der auffallend große Mangel an naturwissenschaftlicher Bildung, an Urtheilsfähigkeit und sittlicher Grundlage im jetzigen Volke, während den Menschenverstand entwürdigender Aberglaube und Unverstand, sowie Selbst- und Genußsucht in voller Blüthe stehen. Würde in den Schulen (und zwar ebenso in den Seminaren und Gymnasien, wie in den Real- und Volksschulen) weniger Gedächtniß- und philosophischer Wortkram getrieben, und dafür das Denken mit Hülfe von Naturgegenständen zeitgemäß gelehrt, dann sähe es sicherlich besser um den Menschenverstand und die Menschenwürde aus. Denn um Urtheile fällen und die Stellung des Menschen in der Natur begreifen zu können, müssen wir über die Natur genau unterrichtet sein und es dürfen uns, dem alten unantastbaren Herkommen zu Liebe und um eine mißliebige Aufklärung zu verhindern, nicht schon in der Jugend die Naturgesetze falsch eingeimpft oder deren Kenntniß ganz vorenthalten werden.

Daß der Verstand eine dem Gehirn mehr oder weniger gut angelernte Arbeit ist, muß Jedem klar werden, der die verschiedenartige Erziehung der Kinder und deren Resultate beobachtet. Was aber aus einem Kinde wird, welches von Geburt an der menschlichen Erziehung entzogen ist, hat Caspar Hauser bewiesen. Es beweisen dies ferner Fälle, wo Kinder unter Thieren aufwuchsen und sich deren Manieren angewöhnten. Solche verwilderte Individuen oder Thiermenschen konnten nicht sprechen, unterschieden nicht Recht und Unrecht, und von Vernunft war keine Spur vorhanden; an körperlicher Gewandtheit übertrafen sie aber die meisten Thiere. So holte das wilde Mädchen, welches 1730 in der Champagne gefangen wurde, selbst nachdem sie ein Jahr in einem Kloster zugebracht, einen Hasen auf freiem Felde ein und sog ihm das Blut aus. Der wilde Knabe, welcher 1847 in Ostindien in Gesellschaft von Wölfen gefangen wurde, verweigerte Kleidung und gekochte Nahrung, nahm nur rohes Fleisch, heulte und biß um sich, lächelte und lachte nie, lief auf Händen und Füßen.

Wie fest die Eindrücke, welche in der frühen Jugend auf den Menschen einwirken, für’s ganze Leben im Gehirne haften bleiben, zeigen recht deutlich die Anhänger der verschiedenen Religionssecten (deren es über tausend giebt), von denen fast ein jeder nur deshalb der festen Ansicht ist, daß sein Glaube der richtigste und von natürlichem Verstande eingegeben sei, weil er ihn von Jugend auf dafür anzusehen gelernt hat und nun fest überzeugt ist, er habe ihn mit auf die Welt gebracht. Und wie geduldig sich die Menschheit von Jugend auf zu Allem abrichten läßt, davon hat man Beweise darin, daß der Glaube Menschen dazu dressirt hat, sich unter einander zu hassen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_372.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)