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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


antrieb, mit den halbblinden Augen in das Nachtdunkel hinaus zu spähen.

Auch als er am Morgen wie gewöhnlich herunter kam, fragte er nicht; ein Blick auf Th’res, als sie das Frühstück brachte, sagte ihm, was er zu wissen begehrte. Es war also wahr, was man ihm hinterbracht hatte, sein Sohn war wirklich ein verlorener Mensch, denn nach seinen strengen mit ihm alt und starr gewordenen Anschauungen konnte es keinen größern Beweis eines nichtsnutzigen, völlig verlotterten Lebens geben, als die Nacht ohne Noth außer dem Hause zuzubringen. Und das hatte sein Sohn gethan, der ältere, auf dem alle seine Hoffnung geruht, der nach ihm den Lindhamerhof bewirthschaften und in Ehren halten sollte – das hatte er gethan unmittelbar nach dem ernsten Gespräche mit ihm, das hatte er zu thun vermocht unter dem ersten Eindruck seines Willens – das war die ganze Wirkung des über seine Lebensweise ausgesprochenen Tadels, daß er dieselbe wie zum Trotz noch überbot und zu den vielen geringen Vergehen noch das nicht zu entschuldigende größte fügte. War die Nacht über seine Stimmung eine mehr gekränke, fast wehmüthige gewesen, so schlug sie mit dem Morgen wieder in zornigen Unmuth um; obwohl es ihm aber heiß zu Kopf stieg, gewann er es doch über sich, sich nicht zu verrathen, und gab den Befehl wegen der Aiblingfahrt mit völlig gleichgültigem Tone.

Dickl, der mit Th’res zugegen war, erwiderte nichts, auch er scheute sich, durch ein voreiliges Wort vielleicht den Funken in’s Pulver zu werfen, und ging ruhig, um Pferde und Wagen in Bereitschaft zu setzen. Während er das that, kam der Brunnensepp wie zufällig aus dem Stalle herbei und indem er ihm dabei behülflich war, flüsterten beide eifrig und angelegentlich miteinander.

Th’res war auf der Bank nebenan sitzen geblieben; sie errieth vollkommen, was der Alte beabsichtigte; er wollte nicht länger im Zweifel sein, wollte Wolf aufsuchen und sich selbst überzeugen, wo er die Nacht über gewesen und was er getrieben. Sie sah ein, daß dagegen nichts gethan werden konnte, vielleicht konnte der Schritt sogar zum Guten und zur Aussöhnung führen, denn sie konnte unmöglich glauben, daß Wolf etwas wirklich Schlechtes gethan und aus bloßem Hang zur Lustbarkeit Nacht und Tag durchschwärmt haben sollte; er konnte ja durch irgend etwas aufgehalten oder verspätet worden sein, gab es doch Gasthäuser genug, in denen er unbedenklich ein Unterkommen fand. Das Eine, was sie bei dem Vorhaben des Alten beunruhigte, war, daß Dickl dabei sein sollte; dies zu verhindern, seinem gewiß nicht förderlichen Einflusse vorzubeugen, war das Nächste, worauf sie sann.

„Das ist gescheidt, daß Ihr Euch auch einmal hinaus macht,“ sagte sie dann, indem sie das Geschirr wegnahm. „Ihr kommt ja gar nirgends mehr hin – habt Euch schon oft vorgenommen, den Aiblinger Doctor zu fragen wegen Eurer Augen, das könnt Ihr dann auch thun; der Doctor wird’s doch wohl besser verstehen als der Bader drüben im Dorf …“

„Ja, ja, hast schon Recht, Th’res,“ entgegnete der Alte in einem ergebenen und doch verbissenen Tone; „aber wegen meinen Augen brauch’ ich nit vor die Hausthür hinauszugehn – ich seh’ mit den kranken Augen so viel, daß ich gar nit weiß, ob ich mir gesunde wünschen soll …“

„Frevelt nit und verzagt nit!“ sagte Th’res mit Beziehung. „Es kann Alles noch recht werden, so lang’ man die Augen offen hat. Der Tag ist auch gar so schön, daß mich eine ordentliche Lust ankommt, auch dabei zu sein; hätt’ mir ohnehin schon lang’ gern Zeug zu einem neuen Mieder gekauft – auf dem Mark hab’ ich die Auswahl … Wie wär’s, wenn Ihr mich mitnähmt?“

„Warum nit?“ erwiderte der Alte. „Aber es wird nit gehn; das Wägerl ist nur zweisitzig, und der Dickl muß mit, weil ich das Kutschiren nit mehr recht zuwege bring’ …“

„Wenn’s weiter nichts ist!“ rief Th’res. „Da ist leicht geholfen: das Kutschiren bring’ ich schon zuwege für Euch; da soll’s nit fehlen …“

„Dann kann’s mir auch recht sein,“ sagte der Alte, „aber wenn Du Dich anziehn und schön machen willst, hast nit viel Zeit; ich will hinauf, mein Gewand holen, und dann geht’s gleich fort, sobald angespannt ist.“

„Ich werd’s kurz machen,“ erwiderte sie lachend, „bin ja schon halb und halb zum Kirchgang hergericht’t gewesen, und wenn ich die Schönheit nit in der Geschwindigkeit fertig bring’, wird die Herumtrengerei auch nit viel helfen …“

Sie ging und kehrte bald zurück, als gerade auch der Bauer im langen Sonntagsrock und den Hut auf dem Kopfe aus seiner Stube herunterkam. Gleichzeitig fuhr Dickl mit dem Wägelchen am Hause vor, in voller Feiertracht und geputzt, daß er fast stattlich ausgesehen hätte, wäre nicht auf seinem Gesichte ein häßlicher Zug von Bosheit aufgeblitzt, als er Th’res ebenfalls vollkommen angekleidet und reisefertig neben dem Vater stehen sah. Das Mädchen hatte die wenigen Augenblicke, die ihr zum Anziehen gegönnt gewesen waren, glänzend benutzt, und wenn es gegolten, ein Muster und Vorbild eines hübschen Bauernmädchens zu zeigen, so wäre ein besseres wohl nicht aufzufinden gewesen. Sie war doppelt schön, denn Das, was sie vorhatte, spiegelte sich mit freudigem Lichtscheine in ihren dunklen Augen, und ihre Wangen waren von einem sonst seltenen warmen Anhauche innerer Erregung überflogen.

„Das hab’ ich mir eh’ ’denk, daß es so gehn wird,“ sagte Dickl, als der Alte ihn absteigen und die Zügel an Th’res übergeben hieß. „Fahrt nur zu! Ich komm’ schon auf Schustersrappen nach.“

Er that, als wäre ihm der Wechsel vollkommen gleichgültig; aber der Seitenblick, den er auf Th’res warf, zeigte dieser klar, daß er sie errathen habe, und wie sie ihn hinwieder ansah, war auch er jeden Zweifels überhoben, daß auch sie ihn durchschaue.

Stolz und freudig, als wüßten sie, wer sie leite, trabten die Pferde dahin, erst langsam die Anhöhe hinunter, dann auf der Ebene, als wären ihnen Flügel gewachsen. Dickl und der Brunngrabersepp kehrten eifrig plaudernd nach dem Stalle zurück.

Der Alte und Th’res fuhren indessen schweigend dahin. Das Mädchen hielt es nicht für gerathen, das Anliegen, das Beiden auf dem Gemüthe lastete, zuerst zu berühren; sie kannte den Bauer und wußte, daß er Alles erst lange in sich herumtrug und vorarbeitete, ehe er es von sich gab; sie wollte es an ihn kommen lassen, das einleitende und vielleicht eben darum entscheidende Wort auszusprechen. Es wurde ihr Das um so leichter, als der Bauer, nichts um sich her beachtend, über seinen Gedanken brütete und so sehr darein vertieft war, daß er manchmal abgerissene Worte halblaut vor sich hin redete und mit den Händen dazu focht, als wollte er ihnen dadurch größern Nachdruck geben. Es war klar, daß er einen harten Strauß in sich durchkämpfte und eine folgenschwere Entschließung sich in ihm vorbereitete.

Auch Th’res war es nicht um ein Gespräch zu thun, sie war nicht minder mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Denn der gestrige Tag hatte solche Veränderungen in ihr hervorgebracht, daß sie Mühe hatte, sich selbst wiederzufinden. Zunächst hatte die lange Abwesenheit Wolf’s, die dadurch hervorgerufene Nothwendigkeit, sich stets mit ihm zu beschäftigen, und die mancherlei Besorgniß um ihn und die Dinge, die noch kommen mußten, sie aufgeklärt, daß ihr Denken und Fühlen enger und stärker mit ihm zusammenhänge, als sie selber geahnt und sich eingestanden hatte; beinahe noch bedeutender aber war die Wirkung, welche das kurze Gespräch mit dem Unterhändler auf sie gemacht hatte. Die von ihm so leicht hingeworfene Frage, wer und was sie denn eigentlich auf dem Lindhamerhofe sei, war ihr schwer auf’s Herz gefallen, wie ein überhängendes Felsenstück, das, lange gekannt und nicht beachtet, plötzlich herniederrollt und das kleine friedliche Gärtchen zerstört, das sich vertrauensvoll unter ihm angesiedelt. Wohl war es immer wie ein dunkler Hintergrund in ihr gelegen, daß sie nicht immer auf dem Lindhamerhofe gewesen, daß hinter ihren Kindererinnerungen, die alle mit diesem Grund und Boden zusammenhingen, noch eine andere Zeit liege, eine Zeit voll unheimlicher und drohender Gestalten und Ereignisse, auf die sie sich nicht mehr besann, die aber manchmal in unguten Stunden sie mit unerklärlicher Bangigkeit überfielen oder im Traume ängstigten. Sie wußte, daß sie als unmündiges Kind auf den Hof gekommen war, daß die Milde der Bäuerin, die schon lange heimgegangen, sie dahin gebracht; aber wie sich das zugetragen und warum, das hatte sie nie erfahren. Sie hatte weder Ursache noch Verlangen gehabt, danach zu fragen, und

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