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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Ein unbekannter Bekannter.

Wenn von irgend einer Sache oder einer Institution, welche das Werk menschlicher Cultur ist, Jedermann spricht und seine Meinung von ihr für eine unbestreitbare Thatsache hält, trotzdem aber sich nachweisen läßt, daß jede solche Meinung vielfach auf Irrthum und völliger Unkenntniß der wirklichen Verhältnisse beruht, so kann man diese Sache oder Institution wohl mit Recht einen unbekannten Bekannten nennen. Dies ist der Fall mit einer über den ganzen Erdball verbreiteten Gesellschaft von humaner Tendenz; Jedermann glaubt etwas von ihr zu wissen und darüber entscheiden zu können, was an ihr sei und welches Recht zur Existenz sie noch gegenwärtig habe, ohne jedoch genau davon unterrichtet zu sein, was in ihr vorgeht, was sie bezweckt, was sie leistet und inwiefern sie daher zum Fortbestand berechtigt ist.

Die Gesellschaft, von welcher wir sprechen, gilt allgemein, aber mit Unrecht, als eine geheime, und es coursiren über sie die seltsamsten und wunderlichsten Gerüchte. Der abergläubische Bauer meint, in ihren Versammlungen sei der Teufel in Gestalt eines schwarzen Pudels anwesend. Der Freund romantischer Ritter- und Räubergeschichten stellt sich unterirdische Gewölbe mit Gerippen und Särgen, gekreuzten Schwertern, vermummten Gestalten, furchtbaren Eiden, schauerlichen Prüfungen und ähnlichem grausenhaftem Apparat vor. Der vom Schicksal Geprüfte träumt von einem Verein edler Menschenfreunde, der nach der Gelegenheit lechze, jeden leeren Geldbeutel zu füllen und jedem Unglücklichen unter die Arme zu greifen. Der Ultramontane und Jesuitenfreund schimpft auf einen Bund, der sich mit nichts angelegentlicher beschäftige, als Kirchen und Religionen zu untergraben, allgemeinen Unglauben zu verbreiten und seine eigene Herrschaft auf den Trümmern des Papstthums zu begründen. Der eingefleischte Bureaukrat wittert eine Verschwörung gegen Ordnung und Gesetz und gegen Ruhe, die erste Bürgerpflicht. Der Gebildete und Liberale endlich zuckt die Achseln und meint, die Sache habe sich überlebt und sei nur noch gut für Solche, die es wünschbar finden, auf Reisen sich überall an Vereinsgenossen wenden und mit Brüdern ein gutes Glas Wein trinken zu können.

Alles dies wird vom Bunde der Freimaurer geglaubt und behauptet; denn dieser ist es, von dem wir sprechen. Nachdem derselbe im vorigen Jahrhundert trotz mannigfacher Verirrungen, in welche er verfallen, allgemeines Ansehen genossen und die hervorragendsten Geister zu seinen Mitgliedern gezählt, ist es in neuester Zeit, obgleich jene Verirrungen bis auf unbedeutende Reste aufgegeben worden sind, zwei Parteien gelungen, ihn in der öffentlichen Meinung zu großem Theile zu discreditiren. Die eine dieser Parteien ist die ultramontan-jesuitische, die andere die radical- und social-demokratische.

Der erstern ist die im Freimaurerbunde geübte Toleranz gegen alle Glaubensbekenntnisse, der zweiten sind seine angeblichen Geheimnisse und der damit, wie man meint, verbundene Anspruch auf eine bevorzugte Stellung in der menschlichen Gesellschaft ein Dorn im Auge. Was nun den ersten Vorwurf betrifft, so ist er allerdings begründet, wenn auch noch nicht in allen Theilen des Bundes so, wie er begründet sein sollte; wäre er aber auch noch tiefer begründet, so würde dies in den Augen denkender und humaner Menschen eher ein Lob, als ein Tadel sein müssen. Bezüglich des Vorwurfs der Geheimnißsucht und Selbstüberhebung aber wollen wir gleich gestehen, daß derselbe immer noch theilweise begründet, aber auch auf dem besten Wege ist, seine Begründung ebenfalls baldigst zu verlieren. Um indessen das Bestehen von Umständen, welche diesen Vorwurf rechtfertigten, zu erklären, wollen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung und Verfassung des Bundes werfen.

Der Freimaurerbund ist kein Orden, wie er noch oft fälschlich genannt wird; denn alle Sagen über seinen Zusammenhang mit den Tempelrittern oder anderen ritterlichen Vereinen, wie überhaupt alle Annahmen von seinem Bestehen seit uralter Zeit sind durchaus grundlos und gehören der Phantasie, nicht der wirklichen Geschichte an. In Wahrheit hat der Freimaurerbund keinen andern Ursprung als in den Gesellschaften der deutschen und englischen Bauleute (Steinmetzen und Maurer) des Mittelalters, welche unter der Zahl anderer ähnlicher Gesellschaften, wie sie damals alle Handwerke bildeten, deshalb eine hervorragende Stellung einnahmen, weil von ihnen die Kirchenbauten ausgingen, diese nach dem frommen Glauben jener Zeit wichtigsten und gottgefälligsten Menschenwerke. Jede Handwerkergesellschaft des Mittelalters, und also auch die der Maurer, hatte übrigens ihre Geheimnisse, welche jedoch keinen andern Inhalt hatten als die kunstgerechte Ausübung des betreffenden Handwerkes, und keinen andern Zweck als die Nachahmung der Kunstgriffe desselben durch Unbefugte und das Einschleichen Solcher in die Gesellschaften und Zünfte der regelrecht Gelernten zu verhindern.

So spann sich denn in den hölzernen Bauhütten, welche neben den Kirchbauplätzen errichtet wurden, ein geheimnisvollem Treiben ab, welchem der Meister vom Stuhl mit dem Schwert in der Hand vorsaß. Da wurden die Lehrlinge zu Gesellen und die Gesellen zu Meistern aufgenommen und in den Geheimnissen der Kunst der freien, d. h. privilegirten Maurer unterrichtet, ohne daß jedoch diese Geheimnisse etwas Anderes enthielten, als wie der rohe Stein behauen und mit Winkelmaß und Cirkel zur würdigen Einfügung in den Tempelbau hergerichtet werden müsse. Allerdings gab sich in diesen Versammlungen mitunter auch ein freierer keckerer Geist kund, als er sonst damals vorzuwalten pflegte. Zeugnisse davon sind die humoristischen Behandlungen kirchlicher Geheimnisse, Orden und anderer Institutionen, welche wir noch gegenwärtig in den Bildhauerarbeiten an den Portalen vieler Dome und Münster gothischen Stiles bewundern. Denn mit der Zeit hatten sich die Bauleute von der kirchlichen Vormundschaft, unter welcher sie früher gestanden, losgemacht und bildeten einen freien Bund durch das ganze deutsche Reich, an dessen Spitze die Bauhütten von Köln, Straßburg, Wien und Zürich standen. Den obersten Vorsitz führte der Meister der Hütte von Straßburg; als aber diese alte deutsche Reichsstadt durch Verrath unter französische Herrschaft gerieth, zerfiel der Bund, und gegenwärtig existiren nur noch vereinzelte schwache Reste desselben.

Die deutsche Bauhütte hatte indessen schon bei Zeiten durch die berühmte Kunstfertigkeit ihrer Mitglieder auch in anderen Ländern Eingang gefunden, so namentlich in England. Aus einem Zustande der Gedrücktheit durch die Krone, welche sie arg bevormundete, erhoben sich dort die Bauleute zu einer freien, unabhängigen und am Ende so sehr geachteten Existenz, daß sich Gelehrte und Adelige in ihre Logen (d. h. Bauhütten) drängten und diese zu einem Stelldichein aller Freunde und Beförderer der Baukunst erhoben. Es war dies besonders unter der Königin Elisabeth und Jakob dem Ersten der Fall, als die an den mittelalterlichen Katholicismus erinnernden gothischen Bauten denjenigen der Renaissance wichen, welcher Stil mit einem freiern, über confessioneller Beschränktheit erhabenen Geiste Hand in Hand ging.

Als sich der prachtvolle Bau der Paulskirche zu London erhob, war die Blüthezeit der Bauvereine eingetreten, die man schon damals allgemein „Freimaurerlogen“ nannte. Nach Beendigung jenes großartigen Tempels jedoch trat, da man nicht mehr so oft Kirchen baute wie im Mittelalter, Mangel an Arbeit ein; die wirklichen Bauleute verloren sich aus den Logen, um Verdienst zu suchen, und so blieben in denselben meist nur die Kunstfreunde zurück, die „Aufgenommenen Brüder“, wie man sie nannte. Da trat eine Umwandlung in der Vereinigung der Freimaurer ein; genau ist dieselbe nicht registriert; aber seitdem sich im Jahre 1717 die vier letzten Logen der Bauleute zu London in eine „Großloge von England“ vereinigten, arbeitete der Freimaurerbund nicht mehr im wirklichen, sondern nur noch im figürlichen Sinne mit Hammer und Kelle, mit Cirkel und Winkelmaß. Ohne daß man genau weiß, von wem diese schöne Idee gekommen, wurde seitdem nur noch am innern Menschen und an der Menschheit im Ganzen gebaut, das Winkelmaß nur noch an die Unebenheiten des menschlichen Herzens angelegt und der Cirkel um die brüderlich vereinten Menschenkinder geschlossen.

Von dieser englischen Großloge aus wurde in staunenswerth kurzer Zeit durch Apostel der Menschenliebe und Brüderlichkeit in allen Ländern Europas und in Nordamerika eine große

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_452.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)