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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Aus dem Jesuitenorden.
Nach eigenen, im Orden gemachten Erfahrungen erzählt von einem Exjesuiten.
I.

Ausschließlich auf den Umstand, daß ich nicht von Hörensagen und nach Allen zugänglichen Schriften, sondern aus eigenem Erlebniß, eigener Anschauung berichte, gründe ich die Berechtigung, in dieser Zeit des neuen großen Kampfs gegen den Orden und des hundertjährigen Gedächtnisses der ersten päpstlichen Aufhebung desselben mich an die Abfassung dieses Artikels für die „Gartenlaube“ zu wagen.

Ja, ich erfuhr mehrere Jahre lang die Segnungen der jesuitischen Erziehung in vollstem Maße an mir selbst und konnte mich nur nach langem Ringen mit der größten Mühe von den Banden des Ordens befreien. Nicht etwa die Lesung von jesuitenfeindlichen Schriften – denn solche bekommt der Jesuit nicht zu lesen –, nicht etwa mündliche oder schriftliche Mahnungen human denkender Freunde – denn sprechen durfte man mit Fremden nur mit Erlaubniß des Obern und im Beisein eines andern Ordensbruders, und Briefe mit solchen Ermahnungen würde der Obere, durch dessen Hand alle gehen, dem Adressaten gar nicht abgeben –, sondern die Regeln, die Erziehung im Kloster selbst führten mich aus demselben zurück. Denn da meine Vernunft nur eingeschläfert, nicht ertödtet war, wagte ich es, darüber nachzudenken, wozu der Wust von Regeln und Constitutionen, die Geist und Herz lähmende Ascetik, die zwecklose und vernunftwidrige Befolgung der Gelübde führen, und so gelangte ich nach langem Nachdenken über das Ordenswesen selbst und nach Prüfung meines eigenen, noch nicht verloren gegangenen individuellen Charakters zu der Ueberzeugung, daß ich selbst für die Anforderungen des blinden Gehorsams nicht tauge, und zugleich zu der Meinung, daß der Orden nicht durchaus so göttlich sei, wie ich bisher geglaubt, sondern als menschliches Machwerk auch seine Schattenseiten haben könne und in der That auch habe. Und nun erlaube man mir, durch einzelne Mittheilungen aus meinen Erfahrungen zur genauern Kenntniß des Ordens das Meinige beizutragen.

Gleich am Eingange der Constitutionen ist als der ausgesprochene doppelte Zweck des Ordens aufgezeichnet: mit Beihülfe der göttlichen Gnade für das Heil und die Vollkommenheit der eigenen Seele zu sorgen und mit ganz besonderer Sorgfalt für das Heil und die Vollkommenheit des Nächsten zu wirken.

Sehen wir zunächst, auf welche Weise der erste Zweck erfüllt wird.

Sobald ich als Aspirant die Schwelle des Klosters überschritten hatte, gehörte ich nicht mehr mir selbst an. So wie der Soldat im Heere nicht nach persönlichem Willen und zu selbsterwähltem Zwecke, sondern nur nach dem absoluten Willen seiner Oberen zum gemeinschaftlichen Zwecke der von diesen beabsichtigten Heeresoperationen handelt, so muß auch beim Jesuiten eigener Wille und eigener Zweck völlig verloren gehen. Daher die militärische Bezeichnung: Gesellschaft, societas, spanisch compañia, und die des Hauptes als Ordensgenerals. Ignatius Loyola war spanischer Soldat gewesen. Er dachte sich den von ihm zu gründenden Orden als ein schlagfertiges Heer, welches sowohl im Innern durch das Band des Gehorsams verbunden sein, als auch nach außen stets zur Disposition des Papstes stehen müsse. Die Unterwerfung unter die Leitung des Obern geht aber viel weiter, als bei dem Heere oder bei jedem anderen weltlichen Organismus. Denn nicht etwa blos in gewissen äußeren Dingen soll der Jesuit abhängig sein, sondern auch in Angelegenheiten des Gewissens und geistigen Lebens, im Studium etc.

Damit der Obere alle seine Untergebenen nicht nur dem Charakter und den allgemeinen Neigungen und Fähigkeiten nach, sondern sogar in ihren geheimsten Gedanken, Wünschen, Vorzügen und Mängeln genau kennen lerne, ist Jeder verpflichtet, dem Oberen die sogenannte Gewissensrechnung (ratio conscientiae), über die in den Regeln eine besondere Rubrik besteht, außerhalb des Bußsacraments freiwillig (?!) abzulegen. Der Noviz muß dies wenigstens einmal wöchentlich thun. Dabei müssen folgende Punkte ganz genau angegeben werden: ob man gegen irgend eine Regel oder Vorschrift des Obern eingenommen sei, ob man Schwierigkeiten in ihrer Befolgung spüre und gegen welche man am meisten verstoße; zu welchen Tugenden man sich am meisten hingezogen fühle; wie es besonders um die volle Hingebung an seine Oberen und die Abtödtung des Willens stehe; welche Frucht man vom Gebrauche des Gebetes, ob man darin Andacht oder Lauigkeit und Zerstreuung fühle? etc.

Damit man die Scham überwinde, über seine geheimsten Neigungen und Fehler offen und frei Rechenschaft abzulegen, soll man bedenken, daß diese Demuth Gott ganz besonders angenehm sei, der die Thörichten erwählt und die Weisen verwirft, und daß die Leitung des Obern, der Gottes Stelle vertritt, nur zum Nutzen der Seele ausfallen kann, während man, in seinem Seelenleben sich selbst überlassen, leicht auf Abwege gerathen könne, da der böse Feind besonders die Seelen derjenigen unter dem Vorwande des Guten betrügt, die da glauben, ohne Gehorsam und Leitung des Obern dem Willen Gottes nachgehen zu können.

Durch solche Vorspiegelungen entsteht erklärlicher Weise eine solche Furcht in den Gemüthern der meisten, besonders der jüngeren Mitglieder, daß sie mit der geringsten Kleinigkeit sofort zum Rector laufen, um sich bei ihm Rath zu erholen, mit dem immer eine besondere Gnade zur Ueberwindung der betreffenden Schwierigkeit verbunden sein soll. Sehr häufig entläßt der Obere den Fragenden ohne Antwort, weil diesem das Gefühl, daß er durch Eröffnung seines Gebrechens seine Pflicht gethan habe, schon an sich genügen muß.

Aber nicht blos ein Jeder selbst soll sich dem Obern offenbaren, sondern Alle sollen einander dazu verhelfen, daß dieser sie genau kenne. Daher soll der Jesuit nach strenger Vorschrift der Constitutionen sich insoweit des Rechtes auf seinen guten Ruf entäußern, daß er sich damit zufrieden erklärt, daß alle seine Vergehen, Fehler und was sonst noch an ihm bemerkt wird, dem Obern zugetragen werden; auch soll er auf diese Weise, das heißt durch gleiche Angeberei, den Anderen zu ihrem Seelenheile förderlich sein. Diese an Eidesstatt abgegebene Verpflichtung muß der Noviz viermal schriftlich einreichen. Dem Obern ist es streng untersagt, den Angeber jemals zu verrathen. Ich habe diese Regel erwähnt, wie sie ist; wozu sie dient, möge sich jeder Unbefangene selbst sagen.

Es läßt sich denken, was für ein durch die Regeln geheiligtes Klatsch- und Spitzelwesen im Kloster herrscht. Außer den zum Angeben ganz besonders verpflichteten Personen klatscht jeder auf eigene Faust, was er nur zu bemerken glaubt, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht. Wenn ich oder meine Cameraden zum Rector kamen, hatte dieser, noch ehe man sein Anliegen vorbrachte, meistens eine Menge Klagen vorzubringen. Bald hatte man sich der verpönten deutschen Sprache bedient (davon später), bald die Regel des Stillschweigens nicht eingehalten, bald zu wenig Freudigkeit im Gehorsam bewiesen und so fort. Und wehe demjenigen, der Unzufriedenheit darüber bezeigte! Es wurde ihm gleich in’s Gedächtniß zurückgerufen, wozu er sich verpflichtet habe.

Dem eintretenden Novizen, der gewöhnlich ein lebenslustiger Gymnasiast ist und schon auf der Schule die Angeberei in viel wichtigeren Dingen nicht leiden mochte, fällt diese Regel selbstverständlich schwer, weil er noch „fleischlich gesinnt“ ist und den „Geist Gottes“ noch nicht versteht. Allmählich lernt er aber einsehen, „daß in der Welt nur Zwang und Vortheil die Motive sind, im Orden dagegen die Ehre Gottes und das Seelenheil“. Er erkennt die Weisheit des heiligen, gotterleuchteten Ordensstifters an, der ihm in dieser Regel, sowie in allen anderen, ein vorzügliches Mittel an die Hand giebt, „Gott wohlgefälliger zu werden“.

Um sich nur als Glied der Mutter Societas zu wissen, soll man kraft der Regeln alle Bande brechen, die den Menschen an seine Familie, sein Vaterland und seine Freunde fesseln.

Die fleischliche, natürliche, „daher höchst unvollkommene“ Liebe zu Eltern und Geschwistern soll man buchstäblich unterdrücken und in eine reine, geistige umwandeln, sodaß man für sie betet und für ihr Seelenheil sorgt. Reden darf man

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_500.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)