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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

„Nein, ich bin ein Deutscher aus Pest (sic!). Ich bin aber schon vor vielen Jahren in’s Veronesische gekommen. Dort habe ich mich auch verheiratet, und erst seit dem Jahre siebenundsechszig wohne ich hier.“

„Allein mit der Tochter?“

„Mein Sohn ist auch hier; er ist aber jetzt auf Arbeit in Pergine. Mein Weib ist todt.“

„Mich wundert,“ fuhr ich fort, „daß die Marietta Deutsch spricht. Die Mutter war doch jedenfalls eine Wälsche?“

„Wie man’s nimmt. Sie war eine Cimbrische, eine aus den Sette communi. Haben Sie davon noch nichts gehört?“

Allerdings hatte ich über jene deutsche Sprachinsel auf italienischem Boden, sowie auch über eine zweite, die sogenannten dreizehn Gemeinden, deren Bewohner man früher irriger Weise für Nachkommen der von Marius zersprengten Cimbern gehalten hat, Mancherlei gehört und gelesen, verneinte aber wohlweislich die Frage, um die Ansicht meines Gastfreundes, der offenbar gern in seiner Muttersprache plauderte, zu vernehmen. Er erzählte:

„Vor vielen, vielen Jahren, noch lange vor der Franzosenzeit sind einmal die Cimbern (er sprach das C nach italienischer Weise wie dsch aus) nach Italien gekommen.“

„Wo kamen sie denn her?“

„Ich glaube aus Preußen oder da herum. Die Cimbern kamen also nach Italien und zwar mit Sack und Pack, mit Weibern und Kindern und wollten Rom einnehmen. Der heilige Vater –“

„Was? Wie kommen denn die Cimbern und der Papst zusammen?“

„Was weiß ich? Vielleicht – die Preußen sind lutherisch – vielleicht waren die Cimbern auch Lutherische und wollten – Sie werden mich schon verstehen …“

„Ah so, nur weiter!“

„Der heilige Vater also kam in große Noth. Da schickte er den General Marino mit der ganzen Armee gegen die Cimbern, und da wurden diese halt bei Verona geschlagen. Es soll dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, denn sonst, wenn Deutsche und Wälsche miteinander gerauft haben, sind die Wälschen jedesmal – huit!“ Er ergänzte seine Rede durch eine bezeichnende Handbewegung. „Die Ueberreste der Cimbern,“ fuhr er fort, „haben sich dann in den sieben und dreizehn Gemeinden niedergelassen und ihre Nachkommen reden noch bis auf den heutigen Tag die cimbrische Sprache.“

„Aha,“ sagte ich, als der Mann eine Pause machte, „jetzt erinnere ich mich, daß ich in der Schule einmal etwas über jene Begebenheit gehört habe. Es ist freilich schon lange her, aber wenn mir recht ist, so waren es damals zwei Völkerschaften oder gar drei, die in Italien einbrachen; Teutonen müssen auch dabei gewesen sein. Weiß man nicht, was aus Denen geworden ist?“

„Das kann ich nicht sagen.“

Die schöne Marietta, welche neben ihrem Vater Platz genommen hatte, stieß ihn mit dem Ellenbogen an und bemerkte halblaut: „Vielleicht die Luserner.“

„Das kann sein,“ nickte der Vater. „Das Mädel ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist auch im Kloster gewesen,“ fügte er hinzu, indem er auf seine Tochter einen Blick voll väterlichen Stolzes warf.

„Wer sind denn die Luserner?“ fragte ich.

Der Maurer deutete mit der Hand nach dem Gebirgsstock, an dessen Abhang ich vorhin müde und durstig herumgeklettert war, und sagte. „Luserna ist ein Dorf droben auf dem Berge. Es führt keine Fahrstraße dahin; sie müssen Alles auf dem Kopfe hinauftragen. Und droben wohnen Leute, die sprechen eine Sprache, welche Niemand versteht. Es ist nicht Deutsch, es ist auch nicht Wälsch, und Cimbrisch ist es auch nicht, aber es ist doch eher Deutsch als Wälsch, was sie sprechen. Und seit ein paar Jahren haben sie auch eine deutsche Schule. Da sollten Sie einmal hinauf gehen.“

„Kennen Sie den Weg?“

Er verneinte, wußte auch sonst nicht viel über Luserna zu berichten. Es war im Gespräch jene Pause eingetreten, die ein Gast, der sich nicht lange aufhalten kann, gern benutzt, um sich zu entfernen. Zudem klapperte die Tochter des Hauses in der Küche etwas laut mit den Tellern und Löffeln, als wollte sie andeuten: Jetzt wird genachtmahlt, und jetzt kommt bald Einer, der auf die Stadtherren gar nicht gut zu sprechen ist. Ich nahm daher von meinem Wirth und seiner Tochter mit gebührendem Dank Abschied und steuerte meinem provisorischen Heim zu mit dem festen Vorsatz, den Lusernern sobald als möglich einen Besuch abzustatten.

Der Entschluß war wie so mancher andere leichter gefaßt als ausgeführt. Denn wen ich auch um den zu nehmenden Weg befragte, Jeder antwortete mir mit Achselzucken, und der einzige des Weges Kundige, den ich endlich ermittelte, konnte seiner Seidenraupen halber nicht abkommen. Er gab mir den Rath, bis zum nächsten Gerichtstag zu warten, da würden vielleicht Luserner Bauern nach Levico kommen, denen ich mich dann bei ihrer Heimkehr anschließen könnte. Hierauf gab er mir noch die tröstliche Versicherung, daß der Weg ohne Führer nicht wohl zu finden sei, und beschrieb mir denselben in der bekannten Weise: Zuerst rechts, dann links, dann geradeaus etc. Den Gerichtstag und das sehr fragliche Erscheinen eines Luserners konnte und wollte ich nicht abwarten, und so beschloß ich denn allein mit Hülfe meiner Karte die Tour zu unternehmen.

An einem der nächsten Tage, noch vor Sonnenaufgang, war ich auf den Beinen, überschritt die Brenta, begann den steilen Abhang zu erklimmen und erreichte nach einer langen Wanderung in der Irre, auf welcher ich genöthigt war, nicht weniger als zehn Runsen mit Lebensgefahr zu überspringen, das Dorf Lavarone, um von dort meinen Weg nach Luserna fortzusetzen.

Lavarone, ein kleines Bergnest, gehört zu jenen zahlreichen Ortschaften Südtirols, welche, ehemals deutsch, nunmehr völlig verwälscht sind. In einigen dieser Gemeinden weisen nur noch die Bezeichnungen der Berge, Thäler, Höfe und Familiennamen darauf hin, daß die Bewohner einmal Deutsche waren. Andere Ortschaften bieten Gelegenheit, den Proceß der Verwälschung zu studiren, welche dank der Lauheit der Regierung, den Agitationen der mit dem Nachbarlande liebäugelnden Italianissimi und der Romanisirungssucht der Geistlichkeit recht erfreuliche Fortschritte macht.* Allerdings hat man seit einigen Jahren begonnen, durch Gründung deutscher Schulen in den bedrohten Gemeinden der Verwälschung entgegenzuarbeiten, ob aber die getroffenen Maßregeln genügend sind, den verfahrenen Karren wieder flott zu machen, erscheint höchst fraglich.

Eine der wenigen Gemeinden, oder sagen wir lieber gleich die einzige, die in dem Kampf um die Muttersprache siegreich geblieben ist, ist Luserna, ehemals ein Glied in einer langen Kette deutscher Colonien, jetzt eine vereinsamte Sprachinsel.

Ich will den Leser mit den Details der letzten Strecke meiner Wanderung nach Luserna nicht ermüden. Nach dreistündigem Marschiren bergauf und bergab gelang es mir, meinen jugendlichen Führer, den ich in Lavarone gedungen hatte, der aber des Weges völlig unkundig war, glücklich an Ort und Stelle zu bringen, als die ersten Tropfen eines Gewitterregens niederfielen.

Das Dorf liegt am Rande des Gebirgsstockes, fast viertausend Fuß über dem Asticothale, hart an der Grenze von Oesterreich und Italien. Scheinbar senkrecht fällt der Berg nach dem genannten Thale ab, und wer von Schwindel frei einen Blick in die Tiefe sendet, erblickt unten die Kirchen und Wohnungen der Menschen wie weiße Gänseblümchen auf grünem Anger.

Die Häuser des gegen siebenhundert Köpfe zählenden Dorfes haben eine von der landesüblichen verschiedene Bauart; sie ähneln vermöge ihrer stark geneigten Dächer den thüringischen Bauernhäusern; ihr Aeußeres ist sauber, wie es auch die Dorfgassen sind.

Gleichzeitig mit mir zog eine Schaar Frauen in das Dorf ein, welche, gewaltige Bündel Gras auf dem Kopfe tragend, sich vor dem herannahenden Unwetter flüchteten. Es waren mächtige, blondhaarige Gestalten; sie hatten ein Ansehen, wie wohl die

* In Roncegno war im vorigen Jahrhundert noch ein deutscher Geistlicher angestellt; in Pergine wurden noch in diesem Jahrhundert deutsche Predigten gehalten, während gegenwärtig daselbst fast Niemand mehr der deutschen Sprache mächtig ist. Der Gebrauch derselben wurde in manchen Gemeinden den Kindern von den Seelenhirten verboten, ja, in Terragnuolo ging ein Priester, Namens Slosser, so weit, den in deutscher Sprache Beichtenden die Absolution zu verweigern.

(Dr. I. von Zingerle.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_844.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)