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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

nicht ein hübsches Werk zu Stande bringen? Es zeugt von der geistigen Bedeutung Tweed’s, daß er sich zum Dictator dieser noblen Gesellschaft aufzuschwingen wußte. Allein damit war weder sein Ehrgeiz noch seine Geldgier befriedigt. Für ihn war diese Stellung blos eine Staffel zu größeren Erfolgen. Sein Endziel war, die Casse der Stadt New-York in seine Hand zu bekommen. Zu dem Zwecke wußten er und seine Genossen es dahin zu bringen, daß sie in die Gesetzgebende Versammlung des Staates New-York gewählt wurden. Dort legten sie eine Anzahl von Gesetzen vor, welche die Verfassung der Stadt gänzlich neugestalteten und deren verschiedene Departements einer Anzahl von Commissionen übertrugen. Mit den ihm zu Gebote stehenden reichlichen Mitteln erkaufte Tweed in schamlosester Weise die Stimmen von Senatoren und Repräsentanten, und die Gesetze gingen durch. Natürlich wurden durch den Einfluß der Irländer und leider auch vieler Deutschen Herrn Tweed’s Genossen und Gehülfen bei der nächsten Wahl zu denjenigen Aemtern erwählt, die sie sich vorher planmäßig ausgesucht. Dies geschah im Jahre 1867. Die Rollen waren meisterhaft vertheilt. Die unglückliche Stadt blutete aus allen Poren. Massen von Sinecuren wurden den um Tweed verdienten Schurken gegeben. Die Gehälter wurden bedeutend erhöht, unbegreifliche und im Betrage fabelhafte Rechnungen präsentirt und bezahlt; die Presse wurde bestochen oder erkauft. Nichtswürdige Subjecte, zu Richtern erwählt, schützten die Verschwörer durch Rechtsverdrehung und selbst schamloses Zuwiderhandeln – kurz ein Corruptions- und Raubsystem wurde organisirt und in’s Werk gesetzt, von dessen Vollkommenheit und Ergiebigkeit die Geschichte kein zweites Beispiel kennt. Natürlich wurden auch die treuen Dienste der Jesuiten auf’s Freigebigste belohnt. Die katholischen Schulen und sogenannten wohlthätigen Anstalten erhielten eine jährliche Durchschnittsunterstützung von sechshunderttausend Dollars, nach der Zahl der Katholiken im Vergleich zu Andersdenkenden das Vierfache von Dem, was für letztere abfiel, obwohl gewiß neun Zehntheile der Steuern von den Nichtkatholiken bezahlt wurden. Um nur den unersättlichen Magen der von dem Knechte der Knechte in Rom infallibilistisch dirigirten Kirche versuchsweise auf kurze Zeit zufrieden zu stellen, schenkte der ganz aus Tweed’schen Marionetten der untersten Classe bestehende Stadtrath dieser Kirche zur Erbauung einer Kathedrale, die alle auf dem neuen Continente an Pracht überbieten soll, zwei Stadtviertel, dessen Werth zwei Millionen betrug.

In wenigen, etwa drei Jahren, hatte die Tweeds’sche Wirthschaft die städtische Schuld von einigen zwanzig aus nahezu hundert Millionen gebracht. Er selbst und seine Helfershelfer gediehen natürlich trefflich dabei. Er besaß jetzt einen der herrlichsten Paläste der daran so reichen fünften Avenue, von dessen verschwenderischer Einrichtung man sich annähernd einen Begriff machen kann, wenn man erfährt, daß sein Pferdestall mit dem schönsten Mahagoniholz sowohl innen wie außen versehen und viel besser ausgestattet war, als die Wohnungen des größten Theiles seiner irischen Landsleute. Und so fest war Tweed’s Macht begründet, so genau war jede Eventualität vorgesehen, so trefflich arbeitete unter dem Schutze der nichtswürdigen Richter Dowling, Curdozo, Mac Cunn etc. die Corruptionsmaschine, so vergeblich erwiesen sich alle Anstrengungen der Besseren in den Wahlen und vor den Gerichten, daß Viele an der Möglichkeit einer Besserung zu verzweifeln begannen.

Wo aber nichts mehr half – da that es die freie Presse. Eines der besten New-Yorker Blätter, „The New-York Times“, ließ im Stillen und mit Aufwand erheblicher Summen durch eine Anzahl seiner Berichterstatter, die Tag und Nacht bei Hoch und Niedrig, im Palaste wie in den Hütten herumspionirten, das oder doch ein Sündenregister des „boss“ (so wurde Tweed von dem nobeln Gesindel genannt, auf das er sich stützte) zusammenstellen und veröffentlichte dasselbe in einer Reihenfolge von täglichen Nummern. Die Wirkung war eine kaum glaubliche, denn es war nun nicht mehr möglich sich zu der überall so großen Partei der Leisetreter zu bekennen, „die sich noch keine Meinung gebildet hatten“ (had not made up their mind). Jetzt hieß es: Farbe bekannt, entweder für Tweed oder gegen ihn! Die großen täglichen Zeitungen, die eine Macht sind nicht nur für die Stadt New-York, sondern für die ganzen Vereinigten Staaten, traten nun mehr oder weniger entschieden, je nachdem ihre Hauptredacteure Redlichkeit und Charakter besaßen oder aber mit dem Tweedismus bisher aus der Ferne geliebäugelt hatten und dafür sehr anständig honorirt worden waren, gegen Tweed auf, unter ihnen auch – eine späte Bekehrung! – das größte deutsche Blatt, das früher ebenfalls zur Inthronisation Tweed’s beigetragen – die „New-Yorker Staatszeitung“.

Die öffentliche Erbitterung wuchs mit jedem Tage und in gleichem Grade der kühle, freche Trotz der von Tweed geführten Gaunerbande, die bis zum Oberbürgermeister Hall hinaufreichte; denn noch standen die Pfeiler ihrer Macht, jene nichtswürdigen Richter, unerschüttert. Aber bald fingen auch sie zu zittern, zu wanken an vor der allgemeinen Erbitterung. Mac Cunn beging Selbstmord; zwei Andere wurden von dem Senate der Gesetzgebenden Versammlung zur Absetzung verurtheilt; Einer zog sich freiwillig zurück. Jetzt fingen einzelne der Diebe, denen jene Richter noch immer Galgenfrist dazu verschafften, an zu verschwinden. Es bildete sich aus den besten Elementen des Kaufmanns-, Bürger- und Advocatenstandes ein Comité von Siebenzig, denen die Aufgabe gestellt wurde, alle gesetzlichen Mittel zu ergreifen, die Verbrecher vor die Gerichte zu bringen. Es war dies ein höchst mühseliges, beschwerliches und nicht ungefährliches Werk, das nur theilweise zu vollenden beinahe zwei Jahre dauerte.

Boß Tweed fühlte sich – und dies war der erste Fehler, der ihm in seinen großartigen Raubzuge passirte – im Besitze seiner Millionen (man spricht von fünfundzwanzig) so sicher, daß er blos auf einige Wochen unsichtbar wurde, dann aber wieder erschien und gegen Stellung einer Sicherheit von zwei Millionen Dollars bis zur gerichtlichen Verhandlung auf freiem Fuße blieb. Die ersten gerichtlichen Bestrebungen gegen die Diebesbande blieben erfolglos, obwohl unter ihren Gegnern die ersten Advocaten, wie O’Connor und Evarts, sich befanden. Die von Tweed ausgesetzten Honorare, die in die Hunderttausende gingen, sicherten auch ihm und seinen Genossen, die wie eine geschlossene Phalanx fochten, Talente ersten Ranges. Diese Schritte verschleppten sich fast durch ein Jahr, und noch immer war die Schlachtreihe der Diebe unerschüttert, ja sie hatte meistens Siege davongetragen. Wie dies möglich, ist einem mit dem englischen Rechte unvertrauten Verstande schwer begreiflich zu machen; jedenfalls scheint es mir außer meiner Aufgabe zu liegen. Vielleicht war es ein Fehler, daß man zuerst die Civilklage, das heißt die auf Rückerstattung des Gestohlenen und auf Entschädigungen, in den Vordergrund schob. Jedenfalls begann endlich gegen den Boß selbst die Verhandlung der Privatklage. Er erschien vor dem Richter Davis, umgeben von einem Stabe von sieben Vertheidigern, unter denen der unverschämte, aber äußerst schlaue und gewandte Graham die erste Rolle spielte, mit seiner gewöhnlichen Ruhe und verächtlichen Gleichgültigkeit, die zu sagen schien: „Wie! Ihr Zwerge wollt mich, der den ganzen Staat seit Jahren als Despot beherrscht, der Millionen zur Verfügung hat und bereit ist, sie zu verwenden, Ihr wollt mich in New-York, wo ich den Preis eines jeden Einzelnen kenne, verurtheilen? Erspart Euch doch die Farce!“

Nachdem der Versuch der Vertheidiger, den Richter Davis, von dem sie wegen seiner anerkannten großen Befähigung, Unparteilichkeit und Ehrenhaftigkeit Alles zu fürchten hatten, zu beseitigen, gescheitert war, nahm die Bildung der Geschworenenbank drei Tage in Anspruch. Viele hundert Bürger erschienen, blos um nicht angenommen zu werden. Unter den Gebliebenen waren fünf Deutsche, und diese waren, wie die amerikanischen Blätter anerkennen, die entschiedensten. Die interessanten Verhandlungen, beständig von den Vertheidigern unterbrochen, endigten mit einem Schuldig von einundfünfzig dem Tweed zur Last gelegten Vergehen. Richter Davis verurtheilte demnach Tweed zu zwölf Jahren Zuchthaus und zwölftausendfünfhundert Dollars Geldstrafe.

Ich kann nicht umhin, einen Theil der Anrede, die Richter Davis dann an Tweed hielt, hier in der Uebersetzung mitzutheilen. Sie dürfte auch in gewissen Regionen in Deutschland dem Durchlesen und Beherzigen empfohlen werden.

„Wilhelm M. Tweed!“ sprach der Richter Davis. „Sie sind durch den Wahrspruch von verständigen und redlichen Geschworenen einer großen Zahl der in der Anklageschrift enthaltenen Beschuldigungen überführt. Dieser Wahrspruch konnte, nach Ansicht des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_010.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)