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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

regte sich plötzlich wieder seitwärts, links von mir, etwas, und wahrlich – da zog ein altes Reh mit einem Schmalreh heraus! Waren beide auch jetzt noch zu weit entfernt, als daß ich sofort auf sie hätte schießen können, so nahmen sie doch alsbald ihre Richtung, wenn auch unter mancherlei Aufenthalt, weil bald hier bald dort nach süßen Gräslein suchend, schräg auf mich zu. So kam denn das Pärchen näher und näher, zuweilen aber doch recht peinlich lange hinter Hügeln blühender Haide oder anderer Deckung verschwindend, wo die Traulichen dann wohl ruhig äßen mochten.

Unter solcher Verzögerung war aber auch die Sonne, welche im Scheiden noch die pinienartigen Wipfel der übergehaltenen Kiefern mit purpurner Pracht durchglühte, hinter einer mir gegenüberliegenden Waldwand niedergesunken, und heimliche Dämmerung breitete sich nun über die ganze weite, stille Haide. Mit Ungeduld wartete ich daher auf das endliche, hoffentlich diesmal recht nahe Wiedererscheinen meines ersehnten Zieles, denn nicht nur daß mir bei längerem Ausbleiben desselben um’s genügende Büchsenlicht bangte, sondern mit Aufregung lauschte ich dabei auch des Schusses meines Mitpürschenden, welcher jeden Augenblick erschallen konnte, wonach – der getroffenen Bestimmung zufolge – ich ja auf den meinigen verzichten mußte. Endlich trat das Mutterreh wieder und zwar hinter dichtem Fichtenanflug hervor. Es stand in bester Schußweite. Noch fehlte aber sein Schützling, und diesem ja galt heute einzig und allein die Jagd. Da – mit graziösem Sprunge – war er plötzlich an der Seite seiner Mutter. Nun aber begann eine wahre Marter für mich, denn wohl hatte ich endlich mein langersehntes Stück schußweit vor mir, aber bald stand dasselbe dicht vor der Alten, bald deckte diese wieder den gefährdeten Sprößling, und ward dieser wirklich einmal frei, dann blieb er doch jedes Mal spitz nach vorn oder nach hinten gewandt. Kurzum, es schien, als sollte es mir heute nimmer glücken, und diese etwa zehn Minuten, die mich eine Ewigkeit dünkten, brachten mich fast zum Verzweifeln. Solche Stimmung aber ließ mich denn durchaus nicht zu sentimentalen Regungen kommen, die sonst wohl, im ruhigen Anblick der gar so lieben Geschöpfe, dem schmucken Geischen das Leben und dem Altreh seinen Liebling gerettet haben würden. Vielmehr erfaßte mich ob der obwaltenden Hindernisse ein so leidenschaftliches Gefühl, daß ich nur mit verstärktem Begehr nach der ausersehenen Beute trachtete. Darum, als endlich doch einmal das schmächtige Backfischchen nur einen Fuß breit hinter der Rike zurückblieb, benutzte ich rasch diesen Augenblick und, scharfes Korn nehmend, berührte ich den Stecher.

Dröhnend hallte der scharfe Büchsenknall durch den in abendlicher Ruhe grabesstill daliegenden Forst und brach sich in mehrfachem Echo an der gegenüber liegenden hohen Holzwand, das lichtblaue Pulverwölkchen aber strich zurück, mir über die Achsel – und niedergeschmettert lag draußen auf moosigem Grunde das zum Tode getroffene niedliche Thier. Aber nicht verlassen war es – die Mutter stand mit den zierlichen, schreckhaft gespreizten Läuften, wie in den Boden gewurzelt, vor dem todeswunden Liebling und starrte diesen, ihren feingeformten Kopf und Hals darüber hinneigend, mit schwerberedtem Auge an. Und eine bange Weile, während das Schmalreh vergeblich sich aufzuraffen trachtete, fesselte treue Mutterliebe das alte Reh regungslos an die verhängnißvolle Stelle; ja so lange, bis ich wieder geladen hatte und nun rasch auf mein Opfer einsprang, um es, das immer noch lebende, von seiner Qual durch einen Nickfang zu erlösen. Nun erst verließ das geängstete Mutterwild, aber immer noch zögernd, die Unglücksstätte und folgte dem Wechsel der nach dem Schuß flüchtig Gewordenen, welche draußen auf dem Gehau gestanden, um wie diese drüben im nun tief düster gewordenen Walde sich dem grausamen menschlichen Auge zu entziehen.

Von Mitleid gequält, beeilte ich mich möglichst, dem noch immer nicht Verendeten den Gnadenstoß zu geben, aber so sicher ich solchen zu vollstrecken meinte – sterben wollte das Aermste doch nicht daran. Und so oft ich den Fang noch wiederholte – zum Tode traf er heute nicht. Noch einmal aber darauf zu schießen, unterließ ich, um bei meinem Protector, dem Oberförster – so ist der Mensch! – meiner Waidmannsehre nichts zu vergeben. Dazu war auf den Schuß jetzt auch mein Freund herbeigeeilt, und willig überließ ich nun diesem, das leidende Thier zu tödten. Mitleidlos und darum völlig ruhig versuchte es auch Dieser – doch mit nicht besserm Erfolg als ich. Weinen hätte ich mögen, der ich mir in diesem Augenblicke wahrlich wie ein Mörder vorkam, und so recht ward mir dabei die Entstehung des Volksaberglaubens klar, der da meint: dasjenige Thier, welches man bei seinem Todesnahen bedauere, könne nicht ersterben. Endlich, als selbst die wiederholte Anwendung des Nickfängers von der erprobten Hand meines Waidgenossen nicht zum Ziele führte, knüpfte dieser die Fangleine vom Hirschfängerkoppel los, und eine Schlinge daran knüpfend – erwürgte der harte Jägersmann gleich einem Henker das sanftäugige, jungfräuliche Wesen damit, dabei in die Worte ausbrechend: „In’s Lazareth können wir dich doch nicht schaffen.“

Ich aber nahm mir vor, auf Jungwild nie wieder zu schießen, und obwohl noch manches Mal die Aufforderung zum Abschuß auf Schmalrehe und Wildskälbchen an mich erging, da solche Leckerbissen gar oft in die feinen Küchen verlangt werden – ich habe mir mein Wort gehalten.




Was uns die Waldmenschen erzählen.


Gustav zu Putlitz hat ein hübsches Märchen erdacht, in welchem sich der Wald erzählt, wie es vordem auf der Erde hergegangen; so harmlos wie in jener Plauderei dürfte es, wenn die Waldmenschen zu erzählen anfangen, nicht abgehen. Ich fürchte, wir werden schreckliche Dinge zu hören bekommen, und will deshalb die weichgeschaffenen Seelen, und Solche, die etwas auf ihre Abstammung halten, im Voraus gewarnt haben. Die Naturspiele und sogenannten Monstra sind heutzutage nicht mehr, wie vor grauen Zeiten, in denen man sie als Drohzeichen des erzürnten Himmels betrachtete, der Gegenstand eines abergläubischen Schreckens, wenn auch, wie wir kürzlich in einer Zeitung lasen, hier und da ein in der Cultur zurückgebliebener Pastor sie wohl heute noch als Strafgerichte und Bußaufforderungen zu betrachten beliebt. Für den Laien ein Gegenstand neugierigen Staunens, können sie dem Forscher oft wichtigere Aufschlüsse über den Verlauf des Bildungsprocesses geben, als selbst die regelmäßig entwickelten Gestalten. Eine phänomenale Erscheinung dieser Art, die sogenannten russischen Waldmenschen Andrian Jeftichew, dessen Portrait wir heute bringen, und sein dreijähriger Sohn Fedor, haben an allen Orten, wo sie sich bisher öffentlich zur Schau stellten, nämlich in Petersburg, Berlin und Paris, an welchem letzteren Orte sie bis vor Kurzem weilten, das höchste Interesse, namentlich bei Aerzten und Naturforschern, hervorgerufen, da sie ganz und gar nichts mit den gewöhnlichen Fällen übermäßigen Behaartseins, z. B. der Frauen, die sich eines Bartes erfreuen, zu thun haben.

Die biographische Nachrichten aus dem Munde des „Directors“ der beiden Waldmenschen sind dürftig genug. Der jetzt fünfundfünfzigjährige Andrian soll von regelmäßig gebildeten Eltern, die im russischen Gouvernement Kostroma wohnhaft waren, abstammen. Da er zwei vollkommen regelmäßig gebildete Geschwister besaß, wurde seine abnorme Erscheinung im Volksmunde natürlicherweise von einem sogenannten Versehen der Mutter abgeleitet. Sie soll sich bei einem unglücklichen Falle ihres Mannes, der ihm alle Oberzähne kostete, und vor einem Pudel, der sie beißen wollte, dermaßen erschreckt haben, daß das Kind einen Pudelkopf und keine Oberzähne bekam. So weit ist die Sache also höchst einfach und natürlich. Von den Bewohnern seines Dorfes als Pudelhund behandelt, zog er sich in eine einsame Waldhöhle zurück und ertränkte seinen Weltschmerz in Branntwein. Durch das Versprechen, von diesem edeln Getränke so viel zu erhalten, wie er vertragen könne, ist er aus seiner Höhle hervorgelockt worden, und wird, dem Vernehmen nach, hauptsächlich mit Sauerkohl und Schnaps ernährt. Mit Ausnahme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_059.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2019)