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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

von der Bürgerschaft dabei, denn allein die Henker. Metzlers Wittib und Andres Aukaß Frau, wie Just Vollbrecht haben sie am Galgen abgethan und an der Kirchhofsmauer begraben. Gott sei ihren Seelen gnädig!“

„Es ist so still im Ort, daß man meint, er wäre ausgestorben. Der Müller hat die Mühl’ stehen lasten. Wer mag auch an Brod denken, wo das Leben in Gefahr ist.“

„Bin heut’, Sonntag Jubilate, in die Kirche gegangen, hab’ aber Niemand darin gefunden, denn allein den Schulmeister und Nikolaus Kraft. Konnte kein Gottesdienst gehalten werden. Erzählten mir die Männer, wie die ganze Nacht hindurch der Zug Flüchtiger in den Steinbergswald gegangen und wie sie sich verschworen, dem Ersten den Garaus zu machen, der sie vor dem Amtmann bringen wolle.“

Des Ortsgeistlichen, eines Pfarrers Hölker, Bemühen, den Amtmann, der namentlich die Wohlhabenden dem Scheiterhaufen überlieferte und sich durch deren Eigenthum bereicherte, milder zu stimmen, war ohne Erfolg, denn dieser zeigte ihm die Vollmacht der Ganerben und drohte, den Mahner aus dem Hause zu werfen, wenn er sich gegen die Obrigkeit auflehne. Der wackere Mann sagte ihm laut Urkunde: „Reißt mich in Stücke, Herr Amtmann! Aber das Maul halt’ ich nicht dazu; denn es sind keine Hexenleute in Lindheim.“

Das Elend der Gefangenen, die in den engen Behältern des Hexenthurms so lange eingekerkert saßen, bis ihnen der Proceß gemacht wurde, der – wie mir scheint – nur in Foltern bestand, suchte des Burgherrn Heese Tochter, Bertha, zu mildern. Ihre Erscheinung, ihr Handeln zieht sich wie ein lichter Faden durch’s Dunkel der Lindheimer Schreckenszeit. Sie wußte die Wächter zu bestechen, daß sie sie in den Thurm ließen, um die durch’s Foltern entstandenen Schmerzen der Unglücklichen durch Balsam zu lindern und den armen „Hexen“ Nahrung zu bringen. Selbst als der Amtmann endlich Kunde von ihrem Thun erhielt, ließ er sie gewähren. Seine Opfer waren ihm sicher, und die schöne Bertha, die er liebte, wollte er nicht erzürnen, denn trotz aller Abweisung, die er erfuhr, gab er die Hoffnung, sie zu gewinnen, nicht auf.

Zu den ergreifendsten Beispielen des Duldens gehört Leben und Sterben eines der Hexerei angeklagten Weibes Namens Anna Kraft, der keine noch so furchtbare Marter die Geständnisse über Anderer Schuld entriß, die man von ihr erpressen wollte. Sie betete einzig auf der Folter, der sie auch erlag, denn als man sie zum Feuer schleppen wollte, saß sie mit gefalteten Händen und verklärten Zügen todt da, was aber nicht hinderte, daß sie noch durch Flammen vertilgt wurde. Unter den heroischen Geschichten nimmt folgende eines Ehepaars den ersten Rang ein. Des Amtmanns Geldgier brachte endlich auch den reichen Müller und sein junges Weib in den Thurm. Die unglückliche Frau wollte unter den Folterqualen verzagen, als ihr Mann ihr die Bitte zurief „kein Geständniß zu machen, das der Wahrheit entgegen sei, oder gar durch Angabe Anderer sich zu retten.“ – Sie ertrug danach Alles standhafter. Als später der Ortsgeistliche, des Burgherrn Tochter und mehrere Bürger sich verbanden, das allgemein beliebte Paar zu befreien, während der Amtmann eine Nacht abwesend war, da gestatteten die durch das Foltern zerrissenen Glieder der Müllerin nicht, sich zu erheben und mit Hülfe ihres Mannes das Fenster des Thurmes zu erreichen, das unsere Illustration zeigt. Alle Ueberredungen seiner Freunde daß er sich rettete, scheiterten darauf beim Müller. Er wollte sein Weib nicht verlassen. Sie aber richtete eine Gegenbitte an ihn, deren Erfüllung sie auch erzwang. Sie sagte: „Geh – eile! Bist Du frei, so zieh gen Speyer an’s Reichskammergericht oder zum Domdechanten von Rosenbach nach Würzburg! Da sage treulich, wie Dir und mir geschehen ist, die wir unschuldig sind!“

Als der Lindheimer Müller nun nach Würzburg kam, fand er den Domdechanten von Rosenbach nicht mehr dort. Er war bereits gen Lindheim aufgebrochen, dessen Lage er durch den Junker von Heese endlich erfahren. Der Müllerin konnte sein Kommen nicht mehr zum Segen gereichen. Sie war bereits verbrannt, als er an Ort und Stelle erschien. Dennoch kam er als rettender Engel gerade in dem Augenblicke in Lindheim an, wo der Pfarrer sein verzweifelndes Weib über die Brücke geleitete, die auch der Hexerei beschuldigt worden war. Der Geistliche wollte seine Frau auf ihrem Wege zum Kerker begleiten. Als nun der Herr von Rosenbach ihnen auf der Brücke begegnete, da entliefen die Büttel und Henker in großer Angst. Der Amtmann verbarg sich; die Pfarrerin aber war gerettet. Man stürzte nun zum Hexenthurm, auch rasch die übrigen Eingekerkerten zu retten.

Ich erzähle keine Märchen; alle von mir aufgeführten Fälle sind urkundlich festgestellt, und die Geschichte des Müller-Ehepaars ist der Chronik entnommen.

Mit eigenthümlich bewegtem Herzen betrachtet man in Lindheim noch heute die alte Steinbrücke, über welche die angeklagten Opfer zum Hexenthurm geschleppt wurden und auf deren verwitterten Quadern nun fröhlich und friedlich eine muthwillig heitere Dorfjugend ihre equilibristischen Kunststücke macht. Sehen wir im Hintergrunde jener alterthümlichen Brücke aber die poetisch gelegene Mühle mit ihren treibenden Rädern, in der ein intelligenter Müller mit seiner Familie haust, dann freuen wir uns beim Anblicke des friedlichen Bildes, beim Gedanken der gesicherten Existenzen arbeitsamer Menschen, daß kein Amtmann Geis sie mehr zerstören kann, daß die „gute“ alte Zeit, die so böse war, vorüber ist und sich eine neue, bessere Epoche auf der Grundlage der Menschlichkeit und Aufklärung erhob.

Die trotz der vernichtenden Gewalt der Zeit noch aufgefundenen Knochen der verbrannten Unglücklichen sind auf dem Kirchhofe beerdigt worden. – Die That ist geschehen – die Nachkommen wollten sühnen, was die Voreltern durch Aberglauben verschuldet hatten.

Wie verwachsen jene ganze frühere Schreckensperiode noch mit der Jetztzeit ist und wie lebhaft die Erinnerung an dieselbe im Volke fortlebt, ersahen wir bei der Fahrt durch die Berge Lindheims. In einer Schlucht hielt plötzlich der Kutscher, der sich bis dahin ganz stumm verhalten hatte, an und verkündete in fast feierlicher Weise: „Hier endete der Blutmensch Geis, Lindheims früherer Amtmann! Er verfolgte eine arme, Kräuter sammelnde Frau, sie der Hexerei zu beschuldigen – da stürzte sein Pferd mit ihm in den Abgrund hinunter, und er brach den Hals. Die Leute jener Zeit sagten, der Teufel habe ihn geholt, und bis zur Stunde heißt dieser Ort ‚die Teufelsschlucht‘.“

Die Teufelsschlucht ist ein reizendes Stück der schönen weiten Gotteswelt, wie denn überhaupt die Wetterau bezaubernd schöne Landschaftsbilder bietet. Sie werden sicher bei der übrigen Welt zur Geltung kommen, wenn die Eisenbahn erst die geheimen Schätze dieser stillen Gebirgsgegend erschlossen hat.

Wer übrigens das Schreckensdenkmal auf Lindheims ländlicher Flur erschaut, der wähne nicht: nur an einer so von der Welt abgeschiedenen Stelle sei möglich gewesen, daß der Aberglaube Wurzel schlug, derartig blühte und so schauerliche Früchte trug. Nein, Hexenprocesse und -Verfolgungen waren bekanntlich selbst Ende des siebenzehnten Jahrhunderts nicht einmal in den großen Städten ausgerottet. Ich erinnere nur an den Dresdener Hexenproceß „der Frauen von Neidschütz“ (1694), in welchem August der Starke die liebliche Sibylle von Neidschütz, die Geliebte seines Bruders Johann Georg, noch im Tode der Zauberei beschuldigte.

Als Junker von Grünrodt, der Abgesandte der Ganerben, um des Burgherrn von der Heese schöne Tochter, seine Jugendgefährtin, warb, die er lange schon liebte, da führte die edle Bertha, welche den Junker oft vergebens an seine Pflicht gemahnt hatte, ihn zum Fenster ihrer väterlichen Burg, und hindeutend auf den nahen Hexenthurm, in dem so viel Unschuldige den gräßlichsten Tod in den Flammen gefunden, sagte sie einfach: „Der Thurm liegt zwischen Dir und meiner Liebe, und die dort geschehenen Thaten scheiden uns für immer.“

M. von Humbracht.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_079.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)