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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der Eisenbahnschwindel in Amerika.


Zur Warnung für meine Landsleute in Deutschland.


Es ist wohl zu erwarten, daß die Streiflichter, welche der jüngste Börsenkrach in New-York, durch die Zahlungseinstellung von Jay Cooke und Compagnie veranlaßt, auf das Eisenbahnwesen der Vereinigten Staaten geworfen, auch dem deutschen Volke sichtbar geworden und ihm künftig zur Lehre dienen werden. Gleichwohl sind die Anerbietungen der amerikanischen Eisenbahnmusterreiter so verlockend, und die Empfehlungen und Anpreisungen deutscher Geschäftshäuser, ihrer nach Procentsätzen des von ihnen angebrachten Capitales bezahlten Unterhändler, so verführerisch, daß es nicht eine unverdienstliche Aufgabe sein dürfte, durch ein Blatt wie die Gartenlaube, die allen Classen der Deutschen eine willkommene Lectüre ist, ein Bild von der Weise zu geben, wie hier Eisenbahnen zu Stande kommen. Es scheint dies um so dringender, als diese Weise so total verschieden von der deutschen ist und als kaum ein Zweifel besteht, daß dieses System binnen Kurzem wieder in voller Blüthe stehen wird.

Es ist hier nicht nöthig, auf die deutsche, oder ich kann wohl sagen europäische, Weise des Zusammenbringens des benöthigten Capitals und dessen Verwendung zu dem bestimmten Zwecke durch die aus der Wahl der Actionäre hervorgehenden Gesellschaftsbehörden einzugehen. Ich darf das wohl als meinen Lesern bekannt voraussetzen. Einigermaßen diesem System ähnlich war das, welches in den weitaus meisten Fällen in den Vereinigten Staaten vor Beginn des Secessionskrieges vorherrschte. Allerdings bedingten einerseits die ungeheure Ausdehnung des Landes und die mit reißender Schnelle nach Westen über neue Territorien sich hinwälzende Ansiedlung, sowie andrerseits der jedem neuen, allseitiger Verwendung und Speculation ein reiches Feld bietenden Staate anklebende Mangel an brach liegendem Capitale Abweichungen von dem Baarsysteme Europas. Ein Theil des nöthigen Capitales (meistens zwei Drittheile) wurde baar unterzeichnet und in Einzahlungen abgetragen, wie sie die Bedürfnisse des Baues erheischten. Für ein Drittheil wurden Schuldscheine (bonds) ausgestellt, welchen die Rechte erster Hypothekenschuld auf die ganze Bahn und alles Zubehör gegeben wurden, die also Aehnlichkeit mit den in Deutschland üblichen Prioritätsactien hatten.

Schon während des Krieges, besonders aber nach dessen Beendigung, trat eine vollständige Aenderung ein. Die Ueberfluthung des weitaus größten Theiles der Vereinigten Staaten mit über achthundert Millionen Dollars Papiergeld (greenbacks) (Texas, gestützt durch seinen Nachbar Mexico, und alle Staaten und Territorien westlich von Ogden am großen Salzsee haben Gold- und Silberwährung beibehalten) und Noten der Nationalbanken rief in der ganzen Nation einen wahren Speculationstaumel hervor, der um so gefährlicher werden mußte, als die großartigen Betrügereien, zu welchen der vierjährige Krieg gegen die Rebellion die schönste und nie verschmähte Gelegenheit geboten, die allgemeine Moralität tief unter das bisherige Niveau herabgedrückt hatte. Nach allen Richtungen hin entwickelte sich ein Unternehmungsfieber, das vor keiner Summe zurückschreckte, dem kein Hinderniß unüberwindlich erschien.

Als nun drei Jahre vor der durch Congreßacte vorgeschriebenen Zeit die Eisenbahn nach San Francisco fertig gestellt und es ruchbar wurde, daß dabei eine Anzahl Männer von fünf bis zu fünfzehn Millionen Jeder gewonnen hatte, da warf sich die Speculation mit wahrer Tollhauswuth auf den Eisenbahnbau. Schreiber Dieses wohnte damals – es war in den Jahren 1868 und 1869 – den Sitzungen des Congresses bei und hatte Gelegenheit, nicht nur die zahllose Menge der gewissenlosesten Mondscheinprojecte kennen zu lernen, sondern auch die Befriedigung, eine Zahl derselben hintertreiben zu helfen und damals schon – der Erste von Allen – auf die Gefahren der Land- und Geldverschleuderung durch den Congreß aufmerksam zu machen. Kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht, das nicht dem rasenden Schwindel Opfer lieferte. Die Hallen des Congresses wurden der bevorzugte Tummelplatz desselben; fast schien es, als ob jedes Mitglied desselben seinen Preis hätte, und das amerikanische Volk mußte die tiefe, unvergeßliche Schmach erleben, Männer, die es zu seinen Besten gezählt und mit Ehren überhäuft hatte, der Verführung der Eisenbahnlobbyisten unterliegen zu sehen. Hunderte von Millionen von Aeckern Landes, das geheiligte Erbe kommender Generationen und die künftige Heimstätte von Hunderttausenden von Einwanderern aus der alten Welt, wurden dem Moloch des Eisenbahnschwindels in den nimmersatten Rachen geworfen und dazu noch als Würze über hundert Millionen Vereinigte-Staaten-Schuldscheine.

Aber auch mit den weitesten Länderstrecken und mit ganzen Schiffsladungen von Staatsschulden allein baut man noch keine Eisenbahnen, dazu bedarf man des baaren Geldes. Dieses zu beschaffen war also die Aufgabe, und mit dieser Aufgabe beschäftigten sich Tag und Nacht und Jahr um Jahr viele der tüchtigsten und ersten Geschäftsleute, aber mehr noch Tausende der gewitzigtsten, schlauesten und gewissenlosesten Schurken aller Nationalitäten.

In kaum glaublich kurzer Zeit entwickelte sich aus dem auf das Höchste gespannten Gährungsprocesse all dieser Elemente ein System, das an Vollkommenheit alles bisher in dieser Richtung Geleistete übertrifft, und mit geringen Abweichungen oder speciellen Verhältnissen Rechnung tragenden Zusätzen und Aufstutzungen bis zum Septemberkrach wunderbar arbeitete, eine und zwar die kühnste Verwirklichung jener Lehre, die ein Yankee einst seinem Sohne als Lebensregel empfohlen haben soll mit den Worten: „Gewinne Geld, auf ehrliche Weise, wenn Du kannst, aber auf alle Falle erwirb Geld!“

Kraft dieses neuen „amerikanischen“ Systems wurde der Bau von Eisenbahnen nunmehr, anstatt wie bisher das Ergebniß eines commerciellen Bedürfnisses, ein Geschäft, dem sich Contractoren und Speculanten widmeten, oft nicht mit Geld oder Credit genug, um eine einzige Schiene zu bezahlen. Das Verfahren ist folgendes:

Der Speculant sammelt um sich eine Anzahl Leute, welche einigermaßen auf der projectirten Linie bekannt, von gewandten, einschmeichelnden Manieren und der öffentlichen Rede, entweder für den Farmersconsum oder den feinen städtischen Gebrauch, mächtig sind. Diese – in Amerikanisch the ring, der Ring – unterzeichnen einige Actien und es ist ihre Aufgabe, bei ihren Freunden und Bekannten auf der Linie noch einige Unterschriften mehr zu erhalten, was denn auch leicht gelingt, denn wer wollte nicht mit einem kleinen Opfer sich eine Eisenbahnverbindung sichern? Es wird diesen Zeichnern zugleich zu verstehen gegeben, daß man es nicht wünsche, viele Actien genommen zu sehen, da ja dadurch der beabsichtigte Vortheil für die Ringleute geschmälert werde, und zugleich die Zusicherung, daß nur ein ganz kleiner Procentsatz des unterzeichneten Capitals eingefordert werden würde. Bis zu welchem kaum glaublichen Grade dies practicirt wurde, beweist zum Beispiel die St. Joseph- und Denver-City-Eisenbahn, die unter passender Behandlung über zwölf Millionen Dollars gekostet hat, noch nicht ausgebaut ist, keinen Verkehr hat, und blos mit vierzehnhundert Dollars Baarunterschrift begonnen wurde!!

Nunmehr beginnt Seitens der Unternehmer wie der Zeichner, denn sie sind nun „in einem Boote“, durch die Presse, deren Herausgeber mit Versprechungen geködert werden, und in Volksversammlungen die Bearbeitung der Bevölkerung, die regelmäßig bald auf Fiebertemperatur steht. Die Grafschaften, Städte, Städtchen und Dörfer werden um Schenkungen, nicht in Geld, bewahre, nein, blos in Schuldscheinen, meistens in zwanzig Jahren zahlbar mit Zinsen, angegangen. Warum sollte man sich weigern? Geld kostet es nicht; wenn’s zur Zahlung kommt, ist man durch die Bank reich geworden, oder fortgezogen, oder todt. Ja, es liegt ein gewisses Hochgefühl darin, zu wissen, daß die Stadt Abdera, die Grafschaft Münchhausen, von der bisher kaum Mitchell’s Atlas etwas wußte, auf den Londoner, Berliner oder Frankfurter Markt kommen sollen. Es entsteht ein Wetteifer, in dem sich die Grafschaften und Gemeinden überbieten. Fünfzigtausend, hunderttausend, ja fünfhunderttausend Dollars werden votirt. Es geht herrlich. Aber mit dem größten Schlage haben die aufopfernden Bürger, die sich der schweren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_110.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)