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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Anwandlungen, die kirchlichen Dogmen bald zu bestreiten, bald über den menschlichen Kreis hinauszurücken, wurden Halbheiten erzeugt, welche viele Schüler des großen Mannes zur völligen Orthodoxie geführt. Es war der Punkt, der dem Scharfblicke und energievollen Wahrheitssinne des jungen Strauß nicht einleuchten wollte.

Schon im Jahre 1830 trat er gegen die nach kirchlichen Bedürfnissen zurecht gedrehten Auffassungen des Christenthums als ein Ganzer auf. Sein „Leben Jesu“ aber bekundete die größte Entschiedenheit, den glänzendsten Freimuth und die reinste Liebe zur Wahrheit. Die besten Köpfe der damaligen Zeit, wie Twesten, Nitzsch, Lücke, Umbreit, Dorner u. A., sind über das Vermitteln, über die Halbheit nicht hinausgekommen. Das Christenthum schien in die engen Mauern der rein theologischen Schulen gebannt, wo über die Echtheit der Evangelien, über Mythus und Geschichte in der Schulsprache gestritten wurde, und die Gebildeten unter den Laien späheten nach einem Manne aus, der, mit der Theologie und Philosophie vertraut, durch eine unerbittliche Kritik in den Stand gesetzt sei, die Nebel der Illusionen zu verscheuchen. Und dieser Mann erschien in dem damals (1835) siebenundzwanzigjährigen Magister Strauß, in dem Repetenten des theologischen Stifts zu Tübingen. Sein „Leben Jesu“ wurde ein Wetter, das in die „Versöhnung von Glauben und Wissen“, in die friedliche Vermittelung der Theologie hereingebrochen war; es wurde zur Brandfackel, in die Feste des kirchlichen Glaubens geschleudert; allmählich jedoch hat das Entsetzen und die Erschütterung aufgehört; das deutsche Volk hat sich mit der leidenschaftslosen objectiven Darstellung des Christenthums befreundet und dieselbe wie einen sich vollziehenden Naturproceß angesehen.

Was seit dreißig Jahren in religiöser Aufklärung des Volkes, in Förderung des Fortschrittes für das Verständniß der biblischen Urkunden geschehen ist, muß dem Werke von Strauß zugeschrieben werden, da der geniale Verfasser bis zu der letzten abweichenden Phase seines reichen Lebens an seinem Werke fortgearbeitet hatte. Seine „Streitschriften“ (drei Hefte), in denen er 1837 die Unzahl der Gegenschriften abfertigte und dabei das Leben Jesu noch schärfer entwickelte, seine 1840 bis 1841 herausgegebene „Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und in ihrem Kampfe mit der modernen Wissenschaft“, seine , 1839 veröffentlichten „Charakteristiken und Kritiken“, namentlich aber sein neues, 1863 bearbeitetes „Leben Jesu für das deutsche Volk“, sind nur geistvolle Weiterarbeiten auf dem Gebiete der Evangelienkritik im Dienste eines Christenthums der Zukunft.

Was ist aber das Charakteristische dieses noch immer fortwirkenden Werkes, und was gab ihm jene Geschlossenheit und Gewalt auf alle Denkenden des Volks? Die Antwort würde lauten: Der feste Zusammenhang zwischen wahrer Philosophie und geschichtlicher Kritik, die nüchterne Scheidung zwischen dichterischem Mythus und Geschichte in den Evangelien und der wahrhaft religiöse Sinn, aus dem wahren Jesus der Geschichte und dem natürlichen und idealen Christus mit seiner Sittenlehre das Christenthum der Zukunft aufzubauen. Aus der Philosophie hat Strauß die Erkenntniß gewonnen, daß das Wirken Gottes in der Welt ein gesetzmäßiges sein muß, so daß für Wunder, für äußerliche Eingriffe in die Welt gar kein Raum sein kann. Aus dieser Weltbetrachtung kam der Antrieb für die geschichtliche Kritik. Die Urkunden des Christenthums, die Evangelien, werden bekanntlich von der Orthodoxie für übernatürliche Geschichte gehalten; der Rationalismus scheiterte mit seiner Beseitigung der Wunder durch natürliche Erklärung derselben; Strauß aber verwarf diese Beschränktheit und Halbheit und untersuchte, ob und wie weit die evangelischen Urkunden überhaupt auf geschichtlichem Grund und Boden stehen. Die gewissenhafte, voraussetzungslose Untersuchung dieser Frage führte ihn dazu, in den Evangelien Producte des mythenbildenden Volksgeistes zu sehen. Das Wunderhafte in den Erzählungen, die unauflöslichen Widersprüche zwischen den einzelnen Evangelisten, die chronologischen Räthsel und die thatsächlichen Ungenauigkeiten im Verhältniß zu den gleichzeitigen weltlichen Schriftstellern, dies Alles leitet auf die sagenhafte Dichtung, die Legende und den poetischen Mythus hin. Dazu kommt noch, daß für die Evangelien nur späte Zeugnisse vorhanden sind, die nicht über das Ende des zweiten Jahrhunderts hinaufreichen, und die offenkundige Thatsache, daß die wunderhaften Erzählungen des alten Testaments, die jüdischen Vorstellungen und Hoffnungen offenbar die mythische Fassung des Lebens Jesu erzeugten. Die Wunder des Moses, des Elia und die vorbildliche Redeweise des alten Testamentes offenbarten sich Strauß als die Anlässe und Grundfäden vieler evangelischen Geschichten, und dieser ungeschichtliche Grundzug, den man durch Mythus bezeichnet, dringt, wie er meint, bis in das Innerste der evangelischen Erzählungen.

Die glänzende Ausführung dieser Kritik, den ganzen zweiten Theil seines volksthümlichen Lebens Jesu bildend, die umfängliche Forschung über Entstehung und Ausbildung der sagenhaften Geschichte Jesu und das klare Ergebniß, daß die Geschichterzählungen der Evangelien nicht wirkliche Geschichte, sondern dichterisch gestaltete Mythen seien, bildet den Kern des Strauß’schen Werkes. Die unerbittliche Macht seiner Beweise, verbunden mit einer Meisterschaft und Plastik der Form, hat jene gewaltige Umwälzung in der Anschauung des Christenthums hervorgebracht, die noch immer fortwirkt. Eine Fluth von Gegenschriften, die fast eine ganze Bibliothek bilden, brach gegen Strauß herein, aber er blieb in seinen zahlreichen Streitschriften die Antworten nicht schuldig. Seinem Lehrer Steudel in Tübingen, seinem ersten Gegner, welcher ihm die wunderhafte Geschichtlichkeit der Evangelien schon daraus zu beweisen meinte, weil sonst „ein gekreuzigter Jude nicht die christliche Kirche gestiftet haben würde“, ruft Strauß zu: „Wenn wir die vielen Wunder in den Evangelien für wahr nehmen, so begreifen wir den anfänglichen Unglauben des Volkes nicht, und dann wäre die Kreuzigung ein Räthsel. Es wäre unbegreiflich, wie die Juden einen Mann, der Tausende durch ein Wunder gespeist, Blindgeborene und Gelähmte geheilt und Todte erweckt hat, kreuzigen lassen sollten. Nicht der zahlreichen mythischen Erzählungen wegen ist die Person Christi bedeutsam, vielmehr wegen der geistig fesselnden Macht seiner Persönlichkeit. Der Eckstein, auf welchem der Apostel Paulus das Christenthum erbauete, war blos Christus, nicht seine wunderhafte Geburt, das Wandeln auf dem Meere etc. Und mußte man nicht schon im alten Testament zum Mythus greifen? Wer wird die redende Eselin Bileam’s, die stillstehende Sonne Josua’s, das Leben Jona’s im Bauche des Walfisches für Geschichte nehmen?“

Strauß vertheidigte sich in den Streitschriften gegen die mannigfachen Angriffe und Vorwürfe der Gegner, wie er auch sonst die Schmähungen verachtete. Auf den Vorwurf, „daß sein Herz hart und daß ihm das Gefühl für den Gekreuzigten fehle, daß er mit Kaltblütigkeit den Gesalbten antaste, ohne daß seinem Auge eine Thräne der Wehmuth entquelle“, erwiderte er, daß er niemals den Geist der Wissenschaft verletzt, niemals den Ton der Frivolität und des Hohnes angeschlagen. „Ja,“ sagte er einmal, „ich hasse und verachte jenes andächtige, zerknirschte und angstvolle Reden in wissenschaftlichen Untersuchungen, welches auf jedem Schritte sich und den Leser mit dem Verluste der Seligkeit bedroht sieht. In wissenschaftlichen Dingen erhält der Geist sich frei, soll also auch freimüthig das Haupt erheben. Für die Wissenschaft existirt überhaupt kein Heiliges, sondern nur ein Wahres, dieses aber verlangt keine Weihrauchwolke der Andacht, sondern Klarheit des Denkens und Redens.“

Schon das alte „Leben Jesu“ in seiner tief gelehrten Form ist das geschichtliche Denkmal eines Wendepunktes in unserer Entwickelung, ein Bildungsbuch für strebsame junge Lehrer des Volkes. Die spätere Bearbeitung für das deutsche Volk, worin nur die Grundgedanken aus dem alten geblieben, die sonst aber ganz neu ist, hat für unser Volk eine reformatorische Bedeutung. Denn unsere Zeit mit ihren Bildungsverhältnissen, welche das Joch einer absoluten geistlichen Autorität nicht mehr tragen mag, die in den Lehren der Orthodoxen nur die theologische Zunft mit ihren Vorurtheilen sieht, will die Bibel mit ihrer Geschichte und Lehre selbst prüfen. Unsere Zeit will nicht einem papiernen Papst, dem Buchstaben der Bibel blindlings gehorchen. Das Volk sehnt sich nach einer Anleitung, um zu unterscheiden zwischen dem, was für alle Zeiten wahr und verbindlich, und dem, was nur in einstmaligen Zeitvorstellungen und Zeitverhältnissen begründet ist. Der Zweifel und das Denken ist auch in die untersten Schichten der Gesellschaft gedrungen und verlangt nach Aufschluß; es widerstrebt selbst schon vielen Ungeweckten, das Ueberlieferte in den Urkunden ohne allen Widerspruch hinzunehmen.

Es ist in dem Obigen zunächst nur die weltgeschichtliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_144.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)