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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

zusammen, die einzelnen Eisnadeln und Sternchen verbinden sich zu größeren Körnern, zu einer zusammenhängenden härteren Masse, die der Gebirgsbewohner Firnschnee (von fern, vorjährig) nennt. Aus dieser Masse entsteht bei fortdauernder Einwirkung wärmerer Luft das klare Gletschereis, welches sich in seinem abschüssigen Bette ganz wie eine zähflüssige Masse abwärts bewegt, obwohl es an seiner Oberfläche durch das Entstehen zahlreicher krachender Sprünge von seiner Sprödigkeit Zeugniß ablegt.

Das Räthsel dieses scheinbaren Widerspruches löst sich durch den Einfluß des mechanischen Druckes auf den Schmelzpunkt des Eises, wie wir ihn eben in dem Boussingault’schen Versuche kennen gelernt haben. Erstarrt das Wasser unter seinem Einflusse schwerer, so muß fertig gebildetes Eis durch Druck wieder zum Schmelzen gebracht werden können. Professor Mousson in Genf hat dies umständlich nachgewiesen und gezeigt, daß man noch bei achtzehn Grad Kälte Eis schmelzen könne, wenn man einen Druck von mehreren tausend Atmosphären anwendet. Was durch starken Druck noch bei großer Kälte möglich ist, muß bei geringerem vor sich gehen, wenn das Eis bereits auf den Schmelzpunkt erwärmt ist. Dies ist der Fall des ballenden Schnees, dessen Eisnadeln schon unter dem Einflusse des Handdrucks eines Kindes oberflächlich schmelzen. Da das entstandene Schmelzwasser aber genau Null Grad oder gar ein klein wenig kälter ist, so gefriert es in den Zwischenräumen, wo es dem Drucke entweichen kann, augenblicklich von Neuem und verkittet die einzelnen Nadeln dadurch zu einer glasigen Masse. Im Innern des Gletschers geschieht dasselbe unter dem Einflusse des eigenen gewaltigen Druckes; die Eismasse kann sich allen Unebenheiten des Bodens anpassen, da in ihrem Innern ähnliche Verschiebungen der Theile durch Schmelzung und Wiederzusammenfrieren wie in dem Innern des Schneeballes vor sich gehen.

Diese zuerst von Faraday studirte Erscheinung, welche der englische Physiker Hooker das Wiedergefrierungsvermögen (Regelation) des Eises genannt hat, und welches zu einer scheinbar vollkommenen Plasticität des Eises führt, kann besonders leicht an einigen ohne Vorrichtungen und Apparate anstellbaren Versuchen studirt werden, die Bottomley vor etwa zwei Jahren bekannt gemacht hat. Diese Versuche gelingen, richtig angestellt, immer, und da sie wie ein paar Zauberstücke aussehen, werden sie vielen Leuten besonderes Vergnügen machen. Man legt in einem geheizten Zimmer ein cylindrisches Stück Blockeis als Brücke auf die Ränder zweier nahe zusammengerückten Holzschemel, so daß der mittlere Theil des Eises sich frei über einem darunter gestellten Holzeimer befindet. Eine Schlinge von feinstem Eisen- ober Messingdraht, wie er in jeder Eisenwaarenhandlung zu kaufen ist, wird darauf um das Eis gelegt und unten das Gewicht mehrerer Kilogramme (je dünner der Draht, je weniger brauchen es zu sein) daran gehängt. Man wird darauf die Schlinge allmählich in das Eis einschneiden und tiefer sinken sehen, wie wenn der Seifensieder mit einem Draht die Seife in kleinere Blöcke zerschneidet, und endlich wird Gewicht und Schlinge in den Eimer fallen. Das wäre nun nicht weiter auffallend, denn man wird sagen, der Draht habe sich einfach durchgeschmolzen, aber das Sonderbare ist, daß der Eisblock nach dem Versuche ebenso unzerschnitten erscheint, wie zuvor, und an jeder andern Stelle gerade so leicht zu zerbrechen sein würde, wie in der Durchgangsebene des Drahtes, die übrigens durch eine Menge ganz feiner Luftbläschen sehr deutlich bezeichnet bleibt.

Zu einem anderen Versuche, der noch lehrreicher ist, bedürfen wir eines sogenannten Durchschlages, dessen Boden von einem recht feinfädigen Drahtsiebe gebildet wird, wie es sich in den meisten Haushaltungen finden dürfte. Wir legen dasselbe gleichfalls über die beiden Schemelränder, auf den Drahtboden ein passendes Stück Eis, auf dem ein Brett mit mehreren Kilogrammen lastet. Wir werden sodann das Eis allmählich unterhalb des Drahtnetzes wie einen Brei hindurchgedrückt sehen, aber es dabei stets als hartes mit dem oberen Theile fest zusammenhängendes Stück befinden. Wenn es ganz hindurch ist, sieht man, daß es aus so vielen Eiscylindern wieder zusammengefroren ist, als es Maschen des Netzes passirt hat; es erscheint in seiner ganzen inneren Masse durch seine Luftbläschenröhren gleichsam gemustert, einem Fliegenauge unter dem Mikroskope ähnlich. Das Eis schmilzt also überall, wo es gegen die Drahtfäden drückt; das Schmelzwasser entweicht in die Rinnen und verkittet dieselben da, wo es dem Drucke nicht weiter ausgesetzt ist, durch Gefrieren. Mit Fäden oder Haarsieben lassen sich, beiläufig bemerkt, wegen der geringen Wärmeleitungsfähigkeit derselben diese Versuche nicht ausführen. In dem Versuche mit dem Drahtsiebe gewahren wir ganz besonders deutlich, wie das Eis in Folge einer Reihe von Schmelzungs- und Wiedergefrierungsprocessen unter dem Einflusse mechanischen Druckes das Verhalten eines weichen Breies annimmt, und werden es nun nicht mehr auffallend finden, daß sich die Gletschermasse, einem solchen ganz ähnlich, bei warmer Sommertemperatur thalwärts bewegt und sich dabei fortwährend allen Unebenheiten ihres Bettes anschmiegt.

Wir dürfen nicht verhehlen, daß die obige Erklärung der Regelationserscheinungen ihrem Entdecker Faraday nicht hat genügen wollen, namentlich in Anbetracht der Leichtigkeit, mit welcher Eisstücke unter Wasser bei Anwendung des geringsten Druckes zusammenfrieren. Wenn man in einer Schale mit heißem Wasser, so heiß, daß es die Hand eben noch ertragen kann, zwei Eisstücke – man darf sie nicht zu klein nehmen, da sie sehr schnell abschmelzen – einander nähert, so genügt ein sehr geringer Druck, um sie mitten im heißen Wasser zusammenfrieren zu lassen. Auf diese Weise frieren Eisberge, in wärmeres Meer gelangt, zu ganzen Ketten zusammen, und das Aneinanderhängen der Schneeflocken in warmer Luft hat denselben Grund. Da nun die Erniedrigung des Eisschmelzpunktes durch einen ganzen Atmosphärendruck noch nicht den hundertsten Theil eines Thermometergrades beträgt, so glaubte Faraday dieses unter warmem Wasser beinahe schon durch bloße Berührung erfolgende Zusammenfrieren nicht auf Rechnung des mechanischen Druckes setzen zu dürfen, und suchte die vereinigende Kraft vielmehr in einer Art Oberflächenwirkung des Eises, welche das Erstarren des Schmelzwassers bewirkt, ähnlich wie ein in überkältetes Wasser geworfener Eiskrystall augenblicklich dessen Erstarren bewirkt. Es ist aber nicht abzusehen, warum ein kleiner Druck nicht dieselbe Wirkung wie ein größerer ausüben sollte, besonders wenn durch das warme Wasser die Eisoberfläche genau auf den Schmelzpunkt erwärmt worden ist.

Man hat bis vor Kurzem geglaubt, daß das Flußeis eine in seinem Innern gestaltlose Masse sei; allein neuere von Tyndall angestellte Versuche haben das Gegentheil wahrscheinlich gemacht. Wenn man ein kräftiges Brennglas so gegen ein dickes Stück Flußeis richtet, daß der Brennpunkt in das Innere der durchsichtigen Masse fällt, so sieht man auf dem Wege des Lichtstrahls kleine metallglänzende Punkte entstehen. Beobachtet man diese Pünktchen, während die Sonnenstrahlen weiter in die für die Wärmestrahlen sehr durchlässige Eismasse geworfen werden, mit einer starken Loupe, so bemerkt man, daß es linsenförmige Höhlungen sind, um welche sich sechs Blätter bilden, deren Ränder zackig werden wie Farnkrautblätter. Der ganze Weg des Lichtes im Eise erscheint mit sehr kleinen, aber nicht weniger zierlichen Eisblumensternchen bedeckt, deren Bildung man verfolgen kann, und die sich alle in Flächen ausbreiten, welche den beiden Gefrierungsflächen des Eises parallel sind. Die metallglänzenden Linsen im Mittelpunkte dieser Eisblumen sind luftleere Räume, welche dadurch entstehen, daß das Schmelzwasser einen geringern Raum einnimmt als das vorher dort vorhandene Eis, wovon man sich überzeugen kann, wenn man solches mit Eisblumen gefüllte Eisstück unter heißem Wasser zergehen läßt; es steigen dann kleine Luftbläschen unter diesen Hohlräumen empor. Man nimmt an, daß diese Eisblumen, die hierbei gleichsam aus der ganzen Masse einzeln herausgeschmolzen werden, schon vorher in demselben vorhanden seien und nicht erst entstehen, sondern nur sichtbar gemacht werden.

Auch die gefrorne Fensterscheibe gebietet uns, zu schließen, daß das Flußeis nicht gestaltlos sein könne. Denn die dünne Schicht des Wassers, welche sich auf die Fenster unserer Wohnung niederschlägt, gefriert immer und zuweilen in überraschend schönen Krystallbildungen. Man muß hier übrigens zwei Fälle unterscheiden, nach denen dieser Fensterschmuck sehr verschieden ausfällt, den Fall nämlich, in welchem der Wasserdampf der Luft spärlich vorhanden ist, und sich direct in fester Form auf die


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, und eine zweite Beilage: „Shakespeare’s Werke“ von Grote in Berlin.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_185.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)