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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Jeder nach seinem Geschmacke aus dem höllischen Trinkzettel bestellt, was ihm beliebt, und der Einlader für Alle bezahlt, oder er läßt sich einladen. Wenn ihm dazu die Mittel fehlen oder der Durst zu groß wird, um auf eine Einladung zu warten, so ist die an die Umgebenden gerichtete Frage: „Wer will tractiren?“ fast nie erfolglos.

Gewöhnlich tritt nun der bedauerliche Fall ein, daß mit einem Treat der Durst nicht gestillt ist, oder aber Einer oder der Andere der eben Tractirten hält es für seine Ehrenpflicht, nun auch sich liberal zu zeigen. Es wird also ein zweiter Treat bestellt und abgefertigt, wohl auch ein dritter und vierter etc., bis so ziemlich die Reihe an Jeden gekommen ist, und das Alles geschieht innerhalb fünf bis sechs Minuten. Die Einladung zu einem Treat auszuschlagen, gilt für eine tödtliche Beleidigung, und es gehört eine äußerst selten anzutreffende Charakter- und nicht selten auch Körperstärke dazu, es ungestraft zu thun. Das fast einzige Schutzmittel ist die Erklärung, man habe den Temperanz-Eid geleistet, wo dann die auch dem verworfensten Amerikaner anklebende Achtung vor jeder sittlichen Anstrengung sich geltend macht. Statt daß also, wie nach deutscher Sitte, sich jene Leute ruhig um einen Tisch gesetzt und im Laufe einer kurzen Unterhaltung Jeder für sich einen Schnaps, ein Glas Bier oder Wein getrunken und dafür eine geringe Ausgabe gemacht hätte, hat er fünf bis sechs in athemloser Hast hinuntergestürzt und eine nicht unbedeutende Zeche bezahlt.

Würde man nun annehmen, daß damit das Tagewerk vollbracht sei, so würde man sich sehr irren. Jeder dieser unserer fünf bis sechs Bekannten spielt dasselbe Stück etwa jede Stunde des Vormittags ab, freilich nicht in derselben Giftbude; diese wechselt mit seiner Beschäftigung und der Vorliebe des ersten Einladenden. Man kann sich hieraus leicht ein Bild vom Zustande des Kopfes und Magens eines solchen Menschen um die Mittags- ober Abendzeit machen, wenn der Herr Gemahl mit leerem Geldbeutel zum häuslichen Herde zurückkehrt. Ich habe Männer, selbst angesehene Kaufleute, Advocaten und mehrmals wiedergewählte Beamte, sogar Richter gekannt und kenne noch solche, die dreißig bis fünfzig „drinks“ täglich als ein ihnen zukommendes Minimum ansehen. Auf meine an einen irischen Schnapswirth gestellte Frage, weshalb er nicht lieber Tische hinstelle, an welchen seine Gäste sich niederlassen könnten, erwiderte er: „Dann wäre ich bald nicht mehr Herr im eigenen Locale; die professionellen Schnapstrinker, die Bummler und Strolche würden den ganzen Tag daran sitzen bleiben, im Winter wegen der Wärme, im Sommer wegen der Kühle.“ Sein Local war nämlich in einem Keller.

Die hier ausgesprochene Ansicht über die Gefährlichkeit der Einrichtung des Bar-Raums habe ich noch nirgends angedeutet gefunden, und ich würde vielleicht selbst auch nicht dazu gekommen sein – der Mensch wird sich meistens über das ihm täglich Begegnende am wenigsten klar –, wenn ich nicht während eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes in spanisch-amerikanischen Ländern bemerkt hätte, daß mit der Einrichtung eines solchen Etablissements an irgend einem Orte trotz der sprüchwörtlichen Nüchternheit und Enthaltsamkeit der spanischen Race die Trunksucht begann und sich mit zunehmender Zahl derselben vermehrte, zugleich aber auch die Anzahl Derer, die an Säuferwahnsinn starben, zunahm. Es ist nämlich erwiesene Thatsache, daß der reine Rum (aguardiente, aus Zucker bereitet) jener Länder nie jene entsetzliche Erscheinung zur Folge hat, und weiter, daß alten Rumtrinkern dieses Getränk zuletzt schal erscheint und daß sie mit der größten Gier und auch für den höchsten Preis zu den Giftproducten amerikanischer, französischer (Cognac!?) und deutscher Industrie (feine Liqueure) greifen.

Die unabweisliche Nothwendigkeit, gegen dieses entsetzliche, die Grundfesten des Gemeinwesens tückisch benagende Laster Mittel zu ergreifen, machte sich bereits über ein halbes Jahrhundert geltend. Anfänglich war die Bekämpfung des Uebels auf moralische Einwirkung durch die Presse, Kanzel und herumreisende Apostel beschränkt, und das angestrebte Ziel war Mäßigkeit im Genusse der gefährlichsten Gattungen von berauschende Getränken. Es liegen mir keine Materialien vor, um zu beurtheilen, welchen Erfolg jene Schritte gehabt, und ich kann mich so lange nicht dazu verstehen, aus den nachfolgenden fanatischen Maßregeln der sogenannten Temperanzfreunde auf deren Fehlschlagen zu schließen, so lange mir nicht nachgewiesen wird, daß blinder Fanatismus eher sein Ziel erreicht als allseitig erwägende Vernunft.

Wir sehen demnächst einerseits das sogenannte Licenzsystem einführen, wonach Niemand ohne Erlaubniß einer gesetzlich bestimmten Behörde, der es zusteht, dieselbe auch zu verweigern, eine Schenkwirthschaft eröffnen darf und dafür eine jährliche Abgabe an die Gemeinde oder den Staat zu bezahlen hat, und andererseits den Charakter der Gemeinschädlichkeit auch weniger starken Getränken, wie Bier, Apfel- und Traubenwein, aufdrücken.

Aber auch damit waren die Temperanzfanatiker nicht zu beschwichtigen und unter ihrem Einflusse erließ die Legislatur des nordöstlichsten Staates der Union, Maine (sprich Mähn), das absolute Verbot jedes Schenklocales und selbst des Einführens von Getränken zu Land oder See und gestattete blos den Apothekern, zu medicinischen Zwecken Branntweine zu halten, und zwar in kleinen Quantitäten, und auf Verschreibung der Aerzte sie zu verabfolgen. Es war erstaunlich, zu beobachten, welch entschieden nachtheiligen Einfluß dieses Gesetz in Maine wie in anderen ihm folgenden Staaten auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung hatte und für welche bisher ungeahnte Menge von Uebeln, „denen das Fleisch unterworfen“, geistige Getränke Heilmittel wurden. Das Resultat des unsinnigen Gesetzes war: jede Apotheke, jede Materialwaarenhandlung, ja ein großer Theil der Privatwohnungen wurden Schnapsbuden, und das gefährlichste aller Symptome dieses Lasters, „der heimliche Soff“, riß dermaßen ein, daß die Executivbehörden erschreckt sich zu einer milderen Praxis bequemen mußten, das heißt das Gesetz blieb ein todter Buchstabe.

Die totale Erfolglosigkeit der von den Fanatikern durchgesetzten Repressivmaßregeln und der heftige Widerstand, welchen denselben viele besonnene Leute unter den Amerikanern, besonders aber die Einwanderer vom europäischen Continente, an ihrer Spitze die Deutschen, entgegensetzten, rief eine Partei in’s Leben, die, wie es jedem Vermittler zwischen fanatisch Streitenden ergeht, bis jetzt fast noch ganz ohne Erfolg gearbeitet hat. Sie ist der Ansicht, daß es nicht der Genuß, selbst der übermäßige, von geistigen Getränken sei, welcher so beklagenswerthe Erscheinungen zur Folge habe, sondern vielmehr der Genuß verfälschter und aus der Gesundheit nachtheiligen Elementen zusammengesetzter Getränke; alle Getränke sollten daher einer chemischen Analyse unterworfen, die verfälschten und schädlichen zerstört und ihre Verfertiger bestraft werden. Sie wies überdies darauf hin, daß durch die gänzliche Unterdrückung des einheimischen Whiskey und Brandy, des Bieres und Weines fast ein Viertheil der Gesammtbevölkerung der Vereinigten Staaten, die theils mit der Erzeugung der dazu nöthigen Rohproducte, wie Mais, Hopfen, Gerste und Trauben, theils mit deren Darstellung und Versendung direct oder indirect beschäftigt sind, in Mitleidenschaft gezogen, wenn nicht brodlos gemacht würden.

In den letzten Jahren ist der Kampf der Temperanzler und ihrer Gegner immer erbitterter geworden. Keine Partei will von Vermittelungsvorschlägen hören. Die Temperanzler haben mehr und mehr eine religiöse Färbung angenommen, und ihre Gegner sind zu Maschinen in der Hand der Vereine von Brauern, Brennern etc. geworden. Es scheint, als ob die Temperanzler ihre fanatischen Zwecke zu verfolgen entschlossen sind, wenn auch Millionen darüber an den Bettelstab kommen sollten, und als ob ihren Gegnern der Ruin von Hunderttausenden von Mitbürgern und von Tausenden von Familien nichts gilt, wenn sie nur ihr Ziel erreichen. Es ist im höchsten Grade zu bedauern, daß die Mittelpartei noch so der Sache ruhig zusieht und sich nicht einmal ein öffentliches Organ von Bedeutung zur Vertretung ihrer Ansichten und Bekämpfung der Uebertreibungen Seitens der kämpfenden Hauptparteien verschafft hat.

Seit Anfang dieses Monats ist in diesem Kampfe eine ganz neue und völlig unerwartete Phase eingetreten. Wer der Erfinder der darin leitenden Idee, ist ebenso bestritten, wie das Verdienst mancher andern großen Erfindungen. Es scheint jedoch, daß dem seit langen Jahren als Humanist berühmten und vielseitig verdienten Dr. Dio Lewis (sprich Louis) von Boston die Palme zukommt, wenn es eine solche giebt. Für die deutschen Leser, die ja so vielseitige Wahlverwandtschaft mit Amerika haben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_211.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)