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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 18.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


„Ich hab’ sie lieb gehabt,“ fuhr Frau Löhn fort, „so recht herzlich lieb, als wär’ sie mein Kind; aber gerade deswegen mache ich ein Kreuz d’rüber und sage: ‚Gott sei gelobt! die Qual in von ihr genommen‘. … Heute Morgen im Frühstückssaal, da kamen mir die Thränen, und ich meinte, ich müßte gleich ersticken vor Freude, wenn ich nicht aufschreien dürfte – sehen Sie, das war’s! Ich bin dann ’rüber gegangen in das Haus, das so viel Marter und Herzeleid mit angesehen hat, und da hab’ ich mich so recht von Herzen ausgeweint – nun darf ich’s ja. Nun heißt’s nicht mehr Komödie spielen und der Gesellschaft da drüben ein X. für ein U vormachen; nun wird die Larve in die Ecke geworfen, die ein ernsthaftes Gesicht machen mußte, wenn ich den Spitzbuben, den Halunken am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Nichts für ungut, gnädige Frau, denn heraus muß es! Aber ich befühle mir noch manchmal den Kopf, ob’s auch wahr ist, was ich jetzt erlebte, und nachher kommt mir die Angst, weil der mit dem geschorenen Kopfe die Sache doch wieder dreht wie er will, und wenn der junge gnädige Herr auch den allerbesten Willen hat. Da heißt’s nun schnell sein und zuerst kommen. … Was hab’ ich gesagt, gnädige Frau? Sie sind richtig der gute Engel gewesen, den der liebe Gott geschickt hat – seine Langmuth war zu Ende, und dem jungen Herrn Baron sind endlich die Augen aufgegangen – wie er heute Morgen in den Saal trat und Sie ansah, da wußte ich auf einmal, was die Glocke geschlagen hatte. … Also, um’s kurz zu machen: Ihnen ganz allein verdankt der Gabriel sein Glück, Ihrer Klugheit und Ihrem guten Herzen, und da müssen Sie nun auch die Sache zu Ende bringen. … Mit dem jungen gnädigen Herrn ist’s nichts – nehmen Sie mir’s nicht übel! Aber er ist zu lange böse und hart gewesen, als daß ich und der Gabriel so schnell ein Herz zu ihm fassen könnten. Ich hab’s heute Morgen versucht; aber es ging absolut nicht, der Doctor war auch dabei, und da stand ich wie auf den Mund geschlagen. … Gabriel, gehe einmal hinaus! Die frische Luft ist Dir nöthig wie das liebe Brod, und ich hab’ der gnädigen Frau mancherlei zu sagen.“

Der Knabe, um dessen Schultern die junge Frau tröstend ihren Arm gelegt hatte, stand auf und ging in den Garten, um sich auf die Bank unter das Rosengebüsch zu setzen – von dort aus konnte er durch das zertrümmerte Glasfenster der Thür bis auf das Rohrbett sehen.

„Also der junge Herr Baron läßt den Zettel nicht mehr gelten, den der selige gnädige Herr geschrieben haben soll; warum er das auf einmal thut, weiß ich nicht. Ich kann nur dem lieben Gott danken, daß es so ist,“ fuhr die Beschließerin fort. „Das Schlimme ist nur, daß es nun einen heillosen Krieg mit den – Gott verzeih’ mir’s! – mit den Pfaffen giebt, und daß wir da nicht Recht behalten, das steht so fest wie der Himmel droben. Sie haben’s ja heute vom Herrn Hofmarschall gehört; er lachte dem jungen Herrn geradezu in’s Gesicht. … Nun weiß ich aber was“ – sie dämpfte ihre Stimme zum leisesten Flüstertone – „gnädige Frau, es ist etwas Schriftliches da, auch ein Zettel vom gnädigen Herrn, den er vor meinen Augen, wirklich Buchstaben für Buchstaben, geschrieben hat. Dort“ – sie zeigte auf die linke Hand der Sterbenden – „sie hat es in ihrer Hand. Es ist eine kleine Büchse, sieht aus wie ein Buch von Silber, und da drin liegt der Zettel. … Die arme, liebe Seele – soll Einem da das Herz nicht brechen? Da sagen die Unmenschen, sie sei ihrem Herzliebsten untreu geworden, und da liegt sie nun seit dreizehn Jahren und behütet den armseligen Zettel ängstlicher als ihr Kind und leidet Schmerzen in den kranken Fingern, die sie in der Angst darum klammert, weil es das Letzte ist, was er ihr gegeben hat, und weil sie denkt, Jeder, der ihr nahe kommt, will es ihr nehmen.“

Der Moment trat der jungen Frau vor die Augen, wo der Hofprediger nach dem Schmucke gegriffen hatte. Jetzt verstand sie die folternde Angst des armen Weibes, das kühne Auftreten der Löhn, ihre wildverzweifelte Abwehr, mit der sie sich zwischen die Kranke und den Hofprediger gestellt hatte. Ein Nervenschauer überlief sie bei dem Gedanken, daß dort zwischen den dünnen, blassen, halberkalteten Kinderfingern ein Zeuge auf die Stunde der Auferstehung wartete. Der Priester hatte ihn unwissentlich halb und halb in der Hand gehabt, ohne daß ihn der hülfreiche Geist seines Herrn und Meisters ein „Zermalme ihn!“ zugeflüstert.

„Sehen Sie, gnädige Frau, das Unglück und die Noth mußten erst kommen, ehe das arme Ding dort mich auch nur mit einem Auge ansah,“ sagte die Beschließerin weiter. „Ich bin immer ein häßliches, unfeines Weib gewesen, und da konnte ich’s ja auch gar nicht verlangen. Wie sie der selige gnädige Herr nach Schönwerth brachte, da war’s ein Gethue in dem Schlosse, als dürfte ein anderes Menschenkind zu dem indischen Hause nur auf den Knieen rutschen. Der Herr war ja selbst wie närrisch und verlangte es so von seinen Leuten. Unsereins

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_283.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)