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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

von der Tyrannei zu entlehnen? Kann es einem Volke passend erscheinen, die Moral zu verletzen, nachdem es so lange ein Opfer Jener war, welche sie verletzten? Was werden wir durch die schmähliche Briefinquisition erfahren? Elende und schmutzige Intriguen, scandalöse Umtriebe, verächtliche Frivolitäten. Wie, das letzte Asyl der Freiheit sollte von Jenen selbst verletzt werden, welche die Nation zur Wahrung ihrer Rechte abgeordnet hat? Die geheimsten Seelenmittheilungen, die geheimsten Geistesconjecturen, die Ausbrüche eines grundlosen Zornes, die oft im nächsten Momente berichtigten Irrthümer sollten als Zeugniß gegen Parteien verwendet werden dürfen? Der Bürger, der Freund, der Vater und Sohn würden so, ohne es zu wissen, zu gegenseitigen Richtern werden. Sie könnten gelegentlich Einer den Andern verrathen. Und die Nationalversammlung sollte zur Basis ihrer Urtheilserkenntnisse zweideutige Mittheilungen machen, die sie sich nur auf dem Wege des Verbrechens verschaffen konnte?“

Mirabeau weist mit der Beredsamkeit eines empörten Geistes einen Antrag zurück, welcher die Versammlung entehren würde, und diese geht unter Beifallsrufen zur Tagesordnung über. Sie thut noch mehr: sie wandelt den von Mirabeau ausgesprochenen hochherzigen Grundsatz in ein Gesetz um, und schon am 14. August 1790 proclamirt sie die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses. Am 26. August decretirt sie, daß fortan „die Postverwalter und Beamten den Eid zu leisten hätten, das Briefgeheimniß unverbrüchlich zu bewahren und alle Verletzungen, die zu ihrer Kenntniß kamen, sofort anzuzeigen“. Gleichzeitig verhängt sie gegen die Zuwiderhandelnden strenge Strafen, als Geld-, Freiheitsstrafen und Verlust der bürgerlichen Rechte etc. Nach der Varenner Flucht wurden die Bedenken der Versammlung auf eine entscheidende Probe gestellt. Zwei an den König adressirte Briefe waren in den Tuilerien aufgefangen worden. Diese beiden Briefe konnten werthvolle Aufschlüsse über die Absichten, Beziehungen und etwaigen sträfliche Unternehmungen Ludwig’s des Sechszehnten geben. Sie waren außerdem erbrochen. Allein die Versammlung weigerte sich, von deren Inhalt Kenntniß zu nehmen, und verfügte, daß diese Briefe wieder versiegelt und dann dem Adressaten zugestellt werden sollten. So scheiterte das Uebermaß des Verraths an der anerkennenswerthen Ehrenhaftigkeit der Versammlung.

Derselbe Robespierre, der 1789 noch für Verletzung des Briefgeheimnisses eingetreten war, hatte am 28. Januar 1791, als es sich um gewisse Correspondenzen, welche der Nationalversammlung zur Prüfung unterbreitet waren, handelte, entrüstet ausgerufen: „Wie ist man zur Kenntniß dieser Schriften gegen die Nationalversammlung gelangt? Man hat also das Briefgeheimniß verletzt. Das ist ein Attentat gegen die öffentliche Sittlichkeit.“ Daß später das Sicherheitscomité solche freisinnige Auffassung wieder dementirte, versteht sich von selbst. Nach dem 9. Thermidor wollte der Convent von der Staatsraison zur Ehrlichkeit zurückkehren und beschloß am 9. December 1794: „Das Briefgeheimniß darf im Innern der Republik nicht verletzt werden, und die über die Verwaltung der Posten gemachten Bemerkungen werden dem Transportcomité zugewiesen.“

Indessen die Sittenlosigkeit der Thermidorianer, die Geriebenheit und Käuflichkeit ihrer Polizei ist wohl zu bekannt, als daß jener Resolution in der Praxis große Bedeutung beizulegen wäre. Daß das schwarze Cabinet unter dem Consulate und unter dem ersten Kaiserreiche wieder arbeitete, unterliegt wohl keinem Zweifel. Napoleon der Erste nahm die von Ludwig dem Vierzehnten eingeweihte Briefinquisition wieder auf. Der Despotismus griff wieder zu seinem finstern Geschäfte. Der Gedanke, gleichviel in welcher Form er auftrat, ob gedruckt oder handschriftlich, war der polizeilichen Ueberwachung unterworfen.

Die Präfecten konnten alle ihnen verdächtig scheinenden Briefschaften auf der Post in Beschlag nehmen lassen. Die seltsamsten und interessantesten, die amüsantesten und ernstesten wurdest dem Herrn und Meister rapportirt. Als Verbannter freilich war Napoleon anderer Ueberzeugung geworden. Auf Sanct Helena sprach er sich dahin aus, daß das Cabinet noir eine schlechte Institution sei, die mehr Uebles anrichte, als Gutes stifte. – „Ich benutzte das schwarze Cabinet,“ äußerte er sich öfter, „hauptsächlich um die geheime Correspondenz meiner Kämmerlinge, meiner Minister, meiner Großofficiere, Berthier’s, selbst Duroc’s kennen zu lernen.“ Uebrigens mißbilligte der Kaiser die Einrichtung des schwarzen Cabinets nicht, weil es unsittlich, sondern weil es unwirksam sei. Er beklagte sich darüber, daß seine gefährlichsten Feinde dieser Spionage entronnen seien, und sagte mit einem Seufzer das unerhörte Wort: „Es gab einen meiner Minister, von dem ich nie einen Brief auffangen konnte.“

Las Cases meldet über das schwarze Cabinet unter dem Kaiser Napoleon dem Ersten: „Sobald Jemand auf dieser wichtigen Ueberwachungsliste eingetragen war, ließ das Bureau sofort seine Wappen und seine Siegel graviren, so daß seine Briefe nach erfolgter Durchlesung und Wiederverschluß ruhig und ohne das leiseste Merkmal an ihre Adresse befördert werden konnten. Die Kosten des Bureaus beliefen sich auf sechshunderttausend Franken. Die Correspondenz von Privatleuten hielt der Kaiser eher für schädlich als für nützlich.“

Selbst ein Mensch wie der Polizeiminister Savary, der Vollstrecker so vieler geheimen Missionen, z. B. der gegen den Herzog von Enghien, verdammt vom Nützlichkeitsstandpunkte aus das schwarze Cabinet in den entschiedensten Ausdrücken. „Mehr als einmal hat man sich gerade dieses Mittels bedient, durch das der Chef des Staates die ungefälschte Wahrheit zu erfahren hofft, um wohlpräparirte Lüge bis unmittelbar zu ihm dringen zu lassen,“ schreibt Savary. „Mit Hülfe dieser Einrichtung kann ein Individuum einer beabsichtigten Denunciation doppelte Wahrscheinlichkeit verleihen; es braucht nur einen Brief auf die Post zu geben, welcher geeignet ist, die Meinung, um deren Verbreitung es sich handelt, zu unterstützen. Der ehrenwertheste Mann kann so durch einen Brief compromittirt werden, den er nie zu lesen bekommt und den er auch nicht verstehen würde. Ich spreche aus Erfahrung,“ fügt er hinzu.

Desgleichen erklärt Bourienne die offenbare Ungnade, die während des ganzen Empire auf General Kellermann lastete, in nachstehender Manier: „Der General-Postdirector Delaforest arbeitete oft mit dem ersten Consul, und man weiß wohl, was das heißen will, wenn ein General-Postdirector mit dem Staatsoberhaupte arbeitet. In einer dieser Sitzungen nun las Napoleon einen Brief Kellermann’s an Lasalle, worin es hieß: ‚Glaubst Du, mein Freund, daß Bonaparte mich nicht einmal zum Divisions-General gemacht hat – mich, der ich ihm die Krone auf’s Haupt gedrückt habe?‘ (Anspielung auf die Schlacht bei Marengo.) Der Brief ging an seine Adresse ab; Bonaparte aber hat den Inhalt des Briefes dem General Kellermann nie vergessen.“

Die Bourbonen behielten das von Napoleon dem Ersten wieder eingeführte Cabinet noir bei. Es ward wie bisher mit sechshunderttausend Franken aus den geheimen Fonds des Auswärtigen Amtes erhalten und von zweiundzwanzig Beamten verwaltet, unter denen sich sehr vornehme Personen befanden.

Bei dem Sturze Villèle’s (1828), der den Polizei-Präfecten Dolevan mitriß, erklärte das neue Ministerium officiell, „das schwarze Cabinet existire nicht mehr in der Postverwaltung“, eine Zweideutigkeit oder besser eine Lüge; denn man hatte es einfach verlegt. Nach der Julirevolution hatte man keine Mühe, es aufzufinden oder den Beweis zu führen, daß es bis zum letzten Augenblicke functionirt hatte. Der Name eines Beamten, den man damals entdeckte, gab zu einem berühmten Processe Veranlassung.

Eine junge Dame aus bester Familie hatte 1821 einen sehr hohen Postbeamten, eine einflußreiche, direct mit den Tuilerien in Verbindung stehende Persönlichkeit geheirathet. Der Gemahl mußte fast jeden Abend auf seinem Bureau sein, oft einen großen Theil der Nacht daselbst zubringen. Die Julirevolution klärte das Räthsel auf: der Biedermann war einer der Vorsteher des „schwarzen Cabinets“. Empört über diese Ehrlosigkeit, klagte die Frau auf Trennung ihrer Ehe vor dem Seine-Tribunal. Sie verlor indessen ihren Proceß, obgleich derselbe von einem der talentvollsten Advocaten geführt wurde; aber die öffentliche Meinung gab ihr Recht und nie hat sie der Mann wiedergesehen, der sie um eines sehr hohen Gehaltes willen mit in seine Schande hinabgerissen.

Selbst der Bürgerkönig Ludwig Philipp unterhielt diese Briefspionage, und noch im Jahre 1847 waren hierfür unter dem Titel „Pensionen für Beamte des ehemaligen schwarzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_289.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)