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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Wahne, daß die Indierin treulos sei, dennoch zu ihren Gunsten testiren wollen; allein es sei Alles geschehen, ihn zu verhindern; selbst der Arzt sei bestochen gewesen und habe seine Bitten um eine gerichtliche Commission stets als einen im Fieberdelirium ausgesprochenen Wunsch ignorirt. In solchen Momenten seien dann Alle beflissen gewesen, ihm das Vergehen, die moralische Gesunkenheit der verstoßenen Frau und das Strafbare seiner früheren Beziehungen zu ihr, in den schwärzesten Farben hinzustellen, und er, in seiner grenzenlosen Hinfälligkeit und oft bis zum Wahnsinne geängstigt durch Hallucinationen, habe sich gefügt. … Nun aber wisse er, daß man ihn in fluchwürdiger Weise hintergangen habe. Er wisse, daß ihm ein Sohn geboren sei, dessen Existenz man ihm verschwiegen habe. Er wisse ferner, daß sein Bruder das Weib seines Herzens mit glühender Leidenschaft verfolge und ihr jedes, auch das kleinste Erbtheil zu entziehen suche, um die Unglückliche ganz in seine Hand zu bringen. … Unter all den Schurken, die ihn in eiserne Ketten geschnürt, sei nicht Einer, der ihm einer mitleidigen Regung fähig schiene; wohl aber erinnere er sich in diesem Augenblicke namenloser Verlassenheit seines jugendlichen Neffen „mit dem tollen, heißen Kopfe, aber großmüthigen Herzen“. Angesichts des nahenden Todes, der ihn stündlich bedrohe, wende er sich an ihn mit seiner letzten Bitte. Er halte es dabei für seine Pflicht, auszusprechen, daß die Indierin makellos an Ruf und Sitten und nicht, wie man gefabelt, eine Bajadere gewesen sei, als sie sein Eigen geworden. Er erkenne ferner den kleinen Gabriel als seinen Sohn an und beschwöre seinen Neffen, die beiden verfolgten unglücklichen Wesen zu schützen und ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen, so zwar, daß ihnen der dritte Theil seiner gesammten Hinterlassenschaft ungeschmälert überantwortet und seinem Kinde der Familienname des Vaters zuerkannt werde. … Frau Löhn, die treue Seele, solle dem Neffen, der Sicherheit wegen, persönlich den Zettel übergeben, dessen Glaubwürdigkeit er noch in der Weise verbürgen wolle, daß er unmittelbar nach geschehenem Abdrucke des Siegels den Smaragdring in die „ungetreuen“ Hände seines „entarteten“ Bruders lege.

„Schön, schön! Der Herr Landstreicher hat mich ja sehr schmeichelhaft geschildert – dies der Dank für meine unermüdliche Pflege, die vielen schlaflosen Nächte!“ sagte der Hofmarschall sich erhebend mit nervös zuckendem Gesichte, während Mainau das Document in seine Brusttasche steckte. „Er ist eben ein charakterloser Bursche bis zu seinem letzten Athemzuge gewesen, den die zwei lügnerischen Weiberzungen windelweich gemacht haben. … Bah, mich ärgert nur, daß ein Geschöpf, wie diese Löhn, mich dupiren durfte.“

Mainau trat von dem Sprechenden weit zurück, mit Ostentation zeigend, daß nun auch er jede Beziehung zu dem „ehrenfestesten, respectabelsten Manne der Familie“ als gelöst ansehe.

„Soll ich morgen als Bevollmächtigter Gisbert’s von Mainau das“ – er drückte die Rechte bezeichnend auf die Brusttasche – „vor Gericht niederlegen?“

„Eh, man wird sich die Sache überlegen. … Man hat ja auch seine Documente. Es wird sich herausstellen, wer siegt, ob Du mit diesem Wische, oder die Kirche mit dem Zettel, der im Raritätenkasten liegt. Der Hofprediger ist ja auch noch da, ein anderer Zeuge als Frau Löhn, die Beschließerin! … Hm, ich glaube, das famose Schriftstück, das Du so zärtlich an Dein Herz genommen, wird Dir mehr Kopfschmerzen machen, als Du denkst. … Einstweilen nimm Dich der Dame dort an! Die nichtswürdige Intrigue, die sie so liebevoll und bereitwillig in Scene gesetzt, scheint sie doch ein wenig mitgenommen zu haben.“

Schon während Mainau las, hatten unheimliche Nervenschauer die junge Frau überrieselt. Es war ihr, als habe ein blutrother, wallender Nebel das Zimmer erfüllt, der auf- und abfluthend das verstörte Gesicht des gegenübersitzenden Hofmarschalls fratzenhaft verzerre. … Nun breitete sich eine tiefe, eisige Nacht über sie hin. Ein halbirres Lächeln erzwingend, streckte sie beide Hände nach der Richtung aus, wo Mainau stand, und brach, von seinen Armen aufgefangen, mit einem dumpfen Schrei bewußtlos zusammen. … Fünf Minuten später brauste eine Equipage nach der Stadt, um Aerzte an das Bett der schwer erkrankten Herrin von Schönwerth zu holen.




28.


Es waren liebliche, sonnenglänzende Herbsttage, die über das Schönwerther Thal hinzogen. Der warme, weiche Lufthauch trug schwer an den Düften der Resedabeete und des reifenden Obstes, und der wilde Wein breitete seine wuchtige Purpurfahne über graue Thurmmauern und die majestätischen Säulenbündel der offenen Gänge.

Vor zwei Fenstern im Erdgeschosse des Schlosses hingen zugezogene blaue Vorhänge; ein Fensterflügel stand offen, und das dufterfüllte Nachmittagslüftchen stieß an die schweren Seidenfalten und schob sie wie mit muthwilliger Kinderhand auf einen kurzen Moment auseinander. Dann flog stets ein feuriger Sonnenpfeil durch die blaue Dämmerung drinnen und weckte glitzernde Reflexe in dem rothgoldenen Haargespinnst, das auf der weißen Bettdecke lag. … Wochenlang hatten Leben und Tod um den dort ruhenden, jungen, tieferschöpften Frauenleib erbittert gerungen; seit gestern aber hofften die Aerzte wieder, und jetzt, in dem Augenblicke, wo das Sonnenlicht abermals wie ein zitterndes Goldstäbchen bis auf die sanftathmende Brust hineinschlüpfte, hoben sich die blonden Wimpern, und der erste verständnißvolle Blick brach aus den verschleierten Augen. Er fiel auf den Mann, der zu Füßen des Bettes saß. Das war sein Platz gewesen von der Stunde an, wo er die Bewußtlose auf ihr Schmerzenslager niedergelegt – da hatte er zum ersten Male in seinem bisher so sorgenlosen, dem Genusse hingegebenen Leben alle Stadien jener unbeschreiblichen Seelenangst durchlaufen, die uns am Krankenbette wünschen läßt, selbst zu sterben, weil jeder Nerv in uns unausgesetzt auf der Folter liegt und weil wir meinen, nach dem letzten Herzschlage dort müsse es tiefe, grausige Nacht werden für immer.

„Raoul!“ – Wer ihm gesagt hätte, als er in der Rudisdorfer Schloßkirche von diesen Lippen das „Ja“ so gleichgültig hingenommen, sie würden ihn binnen Kurzem mit einem einzigen geflüsterten Laut in einen Wonnerausch versetzen! … Er zog die schmale Hand an sich und bedeckte sie mit Küssen, dann legte er den Finger auf den Mund. Die Augen irrten mit lächelndem Ausbruche weiter – wie wurden sie weit und glänzend! Vom Tische her, den Löffel mit der Medicin sorgsam in der Hand haltend, trat die unschöne Dame mit dem brennendrothen, starren Haare, dem sommersprossenbedeckten Gesichte, an das Bett – ihre Ulrike. Noch in jener furchtbaren Nacht hatte Mainau die Schwester telegraphisch herbeigerufen; sie war seine Stütze, sein Halt geworden, das häßliche Mädchen mit dem besonnenen, willenskräftigen Kopfe und dem Herzen voll zärtlicher, aufopfernder Mutterliebe für sein junges Weib. Keine andere Hand, als die ihre, hatte Liane berühren dürfen. Er hatte damit schwere Opfer an Kraft und Hingebung auch für sich gefordert, und sie waren freudig gebracht worden.

Beide legten mit bittend gehobenen Händen der Kranken Schweigen auf; aber sie lächelte. „Wie geht es meinem Kinde?“ flüsterte sie.

„Leo ist gesund,“ sagte Mainau. „Er schreibt täglich ein halbes Dutzend zärtliche Briefe an die kranke Mama – dort liegen sie aufgestapelt.“

„Und Gabriel?“

„Er wohnt im Schlosse, hat sein Zimmer neben dem Hofmeister, der ihn unterrichtet, und wartet sehnsüchtig auf den Moment, wo er seinem schönen, muthigen Anwalte dankbar die Hand küssen darf.“

Die Augen schlossen sich wieder, und die Kranke fiel in einen tiefen Genesungsschlaf.

Acht Tage später schritt sie an Mainau’s Arme zum erste Male wieder durch ihre Gemächer. Es war der letzte Tag im September, und noch wölbte sich ein krystallblauer Sommerhimmel droben; noch taumelte selten ein angekränkeltes Blatt zur Erde. Die Kronen der hochstämmigen Rosen strotzten in unerschöpflicher Blüthenfülle, und auf den Rasenflächen lag ein jugendgrüner Flaum wie im Frühling. Die Welt draußen strahlte, als könne es nie Nacht, nie Winter werden.

Die junge Frau blieb im Salon, der Glasthür gegenüber, stehen. „Ach, Raoul, es ist doch himmlisch, zu leben, und –“

Und, Liane?“

„Und zu lieben,“ sagte sie und schmiegte sich an seine Brust. Fast in demselben Momente schauerte sie aber auch in sich zusammen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_333.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)