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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

mit Nachdenken und geistigen Schlüssen unbewußt durchwebte und durchsättigte Arbeit ist, daß in Folge dessen nur die wenigsten Menschen mit einiger Vollendung sehen lernen, daß sich ein Mensch mit geübten Augen von einem Naturkinde so unterscheidet, wie ein beschäftigter Redacteur, der ganze Schriftseiten mit zwei Blicken überfliegt, von einem Abcschützen, der stotternd und mit unzähligen Fehlern seine erste Fibelseite herbetet. Es ist schier unglaublich, was Künstler, Naturkundige, Geometer etc. auf einem Ausfluge Alles sehen, wovon ihre harmlosen Begleiter nicht die Spur wahrnehmen.

Ein Kind lernt – wie der angehende Mikroskopiker zum zweiten Male – nur sehr allmählich die Gegenstände, welche sich auf seiner Augennetzhaut verkehrt abbilden, unterscheiden, ihre Gestalt, Größe und gegenseitige Entfernung richtig beurtheilen; Hand und Mund, das heißt das Tastgefühl derselben, sind dabei seine Lehrmeister. Diejenigen, welche sich nicht in jenen Zustand zurückversetzen können, in welchem sie mit der Hand nach dem blanken Schüsselchen griffen, welches, von der Amme Mond genannt, noch lange neben ihrem Kinderwagen hertrabte, müssen deshalb immer wieder an die seitdem oft wiederholte Erfahrung erinnert werden, welche der englische Chirurg Chiselden im Jahre 1729 bei einer Staaroperation machte. Wie es Locke und einige andere Tiefdenker vorhergesagt hatten, gerieth der vierzehnjährige blindgeborne junge Mann bei der Eröffnung des neuen Sinnes, den er niemals vermißt hatte, in die größte Bestürzung und vermochte die Gegenstände nunmehr sehr viel schlechter zu unterscheiden, als vorher mit der bloßen Hand. Er glaubte, daß alle Gegenstände, die er sah, seine Augen berührten und daß die nahen und fernen Dinge alle in derselben Ebene unmittelbar vor ihm aneinander gedrängt stünden, und hielt demgemäß die aus der Ferne heraneilenden Menschen für drohend anwachsende Zwerge.

Erst nach mehrmonatlicher angestrengter Uebung brachte er es so weit, den Gesichtssinn mit der tastenden Hand in Einverständniß zu finden, und ging nicht mehr mit ängstlich vorgestreckten Händen, aus Furcht vor den allerseits in seine Augen dringenden Gestalten, auf der Straße umher. Als man ihn in dieser Zeit wieder einmal vor ein Gemälde führte, in welchem er anfangs nichts als eine bunte Klexerei zu erkennen vermocht hatte, begann er nun mit umgekehrtem Erstaunen die Leinwand zu betasten um sich zu vergewissern; ob das Dargestellte greifbar sei, und frug, da er die Bildfläche eben fand, erschreckt, welcher von beiden Sinnen ihn nun eigentlich betrüge, der neu erschlossene, oder die immer zuverlässig befundene Hand? Einem Kinde, welches das erste Bild zu sehen bekommt, muß es zur Schande des besten Malers unzählige Male wiederholt werden, was es vorstellen soll, und erwachsenen Leuten, die zum ersten Male eine Malerei erblicken, geht es nicht besser. Der Reisende Oldfield versichert wenigstens, daß, als er einem Haufen Australier ihr gut getroffenes und colorirtes Racenportrait vorgeführt habe, der Eine darin ein Schiff, der Andere ein Känguruh etc. erblickt habe; unter zwölf Personen sei keine einzige gewesen, die das Bild in irgend eine Beziehung mit sich selbst gebracht habe.

Aber auch wir hochgebildete Europäer, die wir seit früher Kindheit mit den Bilderbüchern enge Freundschaft schließen und uns an ihren täglichen Umgang gewöhnen, erblicken selten in einem Bilde Alles, was man darin sehen kann, was uns der Künstler in demselben zeigen wollte. Ich denke hierbei nicht an die verborgenen Ideen beziehungsreicher Compositionen, sondern nur an das Jedem erkennbar Ausgedrückte, nicht an die geheime Spiegelkraft jedes echten Kunstwerkes, gerade so viel Geist zurückzustrahlen als hineinschaut, sondern nur an Dasjenige, was auf dem Wege zum Auge verloren geht, wenn wir dem Bilde nicht auf die rechte Weise gegenübertreten. Wollte ich mich aber hierüber ausführlich aussprechen, so würde das ein Buch geben; ich muß mich auf ein paar Hauptpunkte beschränken, zu deren Erörterung wir uns zunächst darüber verständigen müssen, welche Hauptunterschiede zwischen dem Eindrucke einer Malerei oder Zeichnung und der Wirklichkeit bestehen.

Der wichtigste Unterschied liegt nun darin, daß sich von den drei Ausdehnungen der Körperwelt wohl zwei, nämlich die Längen- und Höhenumrisse der Gegenstände, genau wie sie sich dem Sinne darstellen, im Bilde wiedergeben lassen, die dritte Dimension hingegen, die Tiefe, auf dem Wege unmittelbarer Darstellung ebenso wenig, wie im einzelnen Netzhautbilde. Wir wissen aus unserem Umgange mit dem Stereoskope, daß diese die Körperlichkeit und Raumausfüllung erst vollendende Tiefenwahrnehmung nur durch das gleichzeitige Erblicken zweier ungleichen Bilder vermittelst unserer beiden Augen zu Stande kommt, namentlich so weit es die Betrachtung naher Gegenstände betrifft. Wer sich darüber noch nicht klar geworden ist, braucht nur vor sich auf den Tisch in die Verlängerung seiner Nasenspitze einen Würfel zu legen und denselben abwechselnd mit dem rechten und linken Auge zu betrachten. Er wird dabei zwei ganz verschiedene Ansichten erhalten, die nur durch zwei ungleiche Zeichnungen, aber nimmermehr durch eine einzige, noch so geschickte Malerei für beide Augen dargestellt werden können, obwohl wir doch sonst mit diesen immer nur ein einfaches Bild sehen. Erhalten wir nun aber in beiden Augen, wie natürlich beim Betrachten eines Gemäldes, genau gleiche Netzhautbilder, so dient dieser Umstand dem Sinnenapparate geradezu als Beweis, daß er keinen wirklich plastischen Gegenstand, sondern eine flächenhafte Darstellung mit blos zwei Ausdehnungen vor sich habe. Der Maler nimmt zu mancherlei Kunstgriffen seine Zuflucht, um uns die dritte im Einzelbilde nicht darstellbare Ausdehnung vorzutäuschen; er übertreibt zu diesem Zwecke die Schlag- und Eigenschatten der Körper, sowie die Wirkung der Luftperspective; er wirkt durch starke Lichtcontraste oder führt ein geschlossenes Licht ein etc., aber dennoch müssen wir ihm auf halbem Wege entgegenkommen, um den Erfolg zu sichern.

Schon Leonardo da Vinci erörterte es ausführlich in seinen Werken, daß ein Gemälde im glücklichsten Falle die Dinge dieser Welt getreu so zeigen kann, wie sie einem Einäugigen erscheinen, und daß deshalb der Beschauer einäugig sein müsse, um es seinem Inhalte nach zu würdigen. Obwohl die Meisten diese Lehre aus ihrem Unterrichte in der Perspective kennen, es sich auch sofort durch das Ansehen des Würfels in’s Gedächtniß zurückrufen können, sieht man außer Künstlern doch nur sehr wenige Leute, welche beim Betrachten von Galerien oder Bilderwerken jeder Art von dieser Erfahrung Nutzen ziehen. Während wir beim Betrachten eines plastischen Kunstwerkes sowie eines jeden körperlichen Dinges unsere beiden Augen mit höchstem Nutzen und Genuß beschäftigen, müssen wir vor allem Gemalten das eine derselben schließen, weil seine Mitwirkung nicht nur unnütz, sondern hinderlich ist. Man thut gut, wenn man zugleich durch Anwendung der hohlen Hand den Anblick des störenden Rahmens oder der umgebenden Wand beseitigt, die uns sonst zur Unzeit immer wieder erinnern, daß es nur ein Bild ist, was wir betrachten. Es ist nicht mit wenigen Worten auszudrücken, um wieviel vollkommener ein gutes Bild durch diesen einfache Handgriff, wenn man so sagen darf, auf uns wirkt. Eine Landschaft vertieft sich zusehends bis zu ihren verschwindenden Horizontlinien; die Figuren stehen frei in derselben und lösen sich von einander; die Verkürzungen werden verständlich und naturwahr, und es ist fast, als ob man mit zwei Augen in ein Stereoskop blickt. Diese Wirkung kommt vielleicht nicht im ersten Augenblicke. Man muß sich erst, wie der landläufige Ausdruck so richtig sagt, ist den Anblick vertiefen, aber endlich wird man das Bild genießen, wie es der Maler gesehen haben will und selbst sah. Das gilt nicht nur für Oelgemälde, sondern ebenso für jede Flächendarstellung, für Kupferstiche, Holzschnitte, Lithographien und Zeichnungen, sowie namentlich für Photographien. Natürlich sind nicht alle Bilder gleichmäßig geeignet, den Vortheil dieser Betrachtungsweise augenfällig zu zeigen, am besten eignen sich dazu Ansichten mit in einem weiten Raume frei gruppirten Figuren oder Gebäuden etc.[1]

Ist freilich die Zeichnung mangelhaft und das Auge geübt, so erscheinen die Sünden des Zeichners gegen die Perspective dem einäugigen Betrachter um so viel deutlicher und greifbarer, als dem mit beiden Augen Dreinschauenden, der sich dadurch seines

  1. Man betrachte z. B, die Illustrationen der Gartenlaube Nr. 3, (Jahrgang 1873) „In der Partnach-Klamm“, Nr. 7 „Bitte, bitte“, Nr. 9 „Norwegisches Liebespaar“, Nr. 17, „Bastei und Stadtgraben von Nürnberg“ und „Liebespaar“, den Holzschnitt nach Grützner’s Gemälde „Löcher im Kirchengut“ in Nr. 43 (besonders brillant), Nr. 44 „Obstplatz in Botzen“, Nr. 3 (1874) „Kirchhof auf dem Oybin“, Nr. 16 „Dorfrichter in Siebenbürgen“, durch die hohle Hand und mit beiden Augen, um den Unterschied zu sehen. Von andern den Meisten zugänglichen Bildern empfehle ich z. B. die Baum-Allee vor Dornröschen’s Schloß in Doré’s Märchenbuch, die Flucht der Königstochter (Eselshaut) ebendaselbst u. A.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_341.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2023)