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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Er zuckte die Achseln und fuhr dann bitter fort: „Das ist der Lohn für die Aufopferung, mit der ich mich der verwaisten Knaben meines Bruders angenommen habe! Hugo schlägt aller Dankbarkeit, aller Vernunft und Erziehung in’s Gesicht und geht heimlich auf und davon, und Reinhold, der hier in meinem Hause unter meinen Augen aufgewachsen ist, macht mir die schwersten Sorgen mit seinem unseligen Hange zu allen möglichen Phantastereien. Aber bei ihm wenigstens habe ich den Zügel in Händen behalten und werde ihn jetzt so straff anziehen, daß ihm die Lust vergehen soll, sich noch ferner dagegen zu sträuben.“

„Ja, Hugo’s Undankbarkeit war wirklich himmelschreiend,“ stimmte Frau Almbach ein. „Bei Nacht und Nebel aus unserem Hause zu entfliehen, zur See zu gehen, um ‚sein Glück allein in der Welt zu versuchen‘, wie es in dem kecken Abschiedsbriefe hieß, den er zurückließ! Nun, er scheint es trotzalledem draußen gefunden zu haben. Schon vor zwei Jahren kam der erste Brief des ‚Herrn Capitain‘ an Reinhold an, und dieser deutete erst kürzlich ganz offen auf die bevorstehende Rückkehr hin. Ich fürchte, er weiß bereits ganz Bestimmtes darüber.“

„Ueber meine Schwelle darf Hugo nicht kommen,“ erklärte der Kaufmann mit einer feierlichen Handbewegung. „Ich weiß nichts von seinem Briefwechsel mit Reinhold, will nichts davon wissen. Mögen sie hinter meinem Rücken correspondiren; aber wenn der Ungerathene die Frechheit haben sollte, mir vor Augen zu kommen, so wird er den Zorn eines beleidigten Oheims und Vormundes kennen lernen.“

Während die Eltern sich anschickten, dies augenscheinlich sehr oft behandelte Thema mit der gewohnten Ausführlichkeit und Empörung zu erörtern, hatte Ella unbemerkt das Zimmer verlassen und stieg jetzt die Treppe hinunter, die nach dem zu ebener Erde gelegenen Comptoir führte. Die junge Frau wußte, daß jetzt, zur Mittagszeit, das Personal abwesend war, und das gab ihr wohl den Muth, dort einzutreten.

Es war ein großer düsterer Raum, dem die kahlen Wände und die vergitterten Fenster etwas Gefängnißartiges verliehen. Man hatte sich nicht die Mühe genommen, dem Geschäftszimmer irgend einen Comfort oder auch nur ein freundlicheres Ansehen zu geben. Wozu auch! Was zur Arbeit gehörte, war vorhanden; das Uebrige war Luxus, und einen Luxus pflegte sich das Haus Almbach und Compagnie trotz seines notorisch nicht unbedeutenden Vermögens nie zu gestatten.

Es befand sich augenblicklich Niemand im Comptoir außer dem jungen Manne, der an einem der Pulte saß und das große Hauptbuch vor sich aufgeschlagen hatte. Er sah bleich und überwacht aus, und die Augen, die sich mit den Zahlen beschäftigen sollten, hafteten unverwandt auf dem schmalen Sonnenstreif, der schräg in das Zimmer fiel. Es lag in dem Blicke etwas von der Sehnsucht und Bitterkeit des Gefangenen, dem der Sonnenstrahl, der in seine Zelle dringt, Kunde giebt von dem Leben und der Freiheit draußen. Er wandte kaum den Kopf beim Oeffnen der Thür und fragte gleichgültig:

„Was giebt es? Was willst Du, Ella?“

Jede andere Frau wäre bei der nun folgenden Frage wohl zu ihrem Manne getreten und hätte den Arm um seine Schulter gelegt. Ella blieb dicht an der Schwelle stehen. Es klang doch gar zu eisig, dieses „Was willst Du?“ Sie kam ihm offenbar ungelegen.

„Ich wollte fragen, wie es mit Deinem Kopfschmerz steht,“ begann sie schüchtern.

„Mein Kopfschmerz?“ Reinhold besann sich plötzlich. „Ja so. Ich denke, er ist vorüber.“

Die junge Frau schloß die Thür und kam einige Schritte näher.

„Die Eltern sind wieder recht ungehalten, daß Du gestern nicht beim Feste warst und statt dessen die ganze Nacht hindurch gespielt hast,“ berichtete sie zögernd.

Reinhold runzelte die Stirn. „Wer hat ihnen denn das wieder einmal gesagt? Du vielleicht?“

„Ich?“ Es klang wie ein halber Vorwurf in der Stimme. „Der Buchhalter hat heute Morgen bei der Rückkehr das Gartenhaus noch erleuchtet gesehen und Dein Spiel gehört.“

Ein Ausdruck verächtlichen Spottes zuckte um die Lippen des jungen Mannes. „Ach so; daran hatte ich allerdings nicht gedacht. Ich glaubte nicht, daß die Herren nach ihrem Jubiläum noch Zeit und Lust zu Beobachtungen übrig hätten. Freilich, zum Spioniren sind sie immer nüchtern genug.“

„Der Vater meint –“ begann Ella wieder.

„Was meint er?“ fuhr Reinhold gereizt auf. „Ist es ihm vielleicht noch nicht genug, daß ich vom Morgen bis zum Abend hier an’s Comptoir gefesselt bin? Mißgönnt er mir sogar die Erholung, die ich Nachts in der Musik suche? Ich dächte, ich und mein Flügel wären weit genug verbannt worden; das Gartenzimmer liegt ja so fern und einsam, daß ich nicht in Gefahr komme, den Schlaf eines der Gerechten hier im Hause zu stören. Man kann zum Glück keinen Laut vernehmen.“

„Doch!“ sagte die junge Frau leise. „Ich höre jeden Ton, wenn es ringsum so still ist und ich ganz allein wach liege.“

Reinhold wandte sich um und sah seine Frau an. Sie stand mit niedergeschlagenen Augen und völlig ausdruckslosem Gesichte vor ihm. Sein Blick glitt langsam an ihrer Gestalt nieder, als stelle er unbewußt irgend eine Vergleichung an, und die Bitterkeit in seinen Zügen trat noch deutlicher hervor.

„Das thut mir leid,“ entgegnete er kalt; „aber ich kann es nicht ändern, daß Deine Fenster nach dem Garten hinausgehen. Schließe künftig die Läden! Dann werden Dich meine musikalischen ‚Extravaganzen‘ hoffentlich nicht mehr im Schlafe stören.“

Er schlug die Seiten des Buches um und schien sich wieder in die Zahlen zu vertiefen. Ella wartete wohl noch eine Minute lang; als sie aber sah, daß von ihrer Gegenwart nicht die geringste Notiz genommen wurde, ging sie so still und lautlos, wie sie gekommen war.

Kaum war sie fort, so schleuderte Reinhold mit einer leidenschaftlichen Bewegung das Hauptbuch zur Seite. Der Blick, der auf den so verächtlich behandelten Gegenstand fiel und dann durch das ganze Comptoir schweifte, zeugte von bitterstem Hasse; dann legte er schwer athmend den Kopf auf beide Arme und schloß die Augen, als wolle er nichts mehr von der ganzen Umgebung sehen und hören.

„Grüß Gott, Reinhold!“ sagte auf einmal eine fremde Stimme dicht neben ihm.

Der Gerufene fuhr empor und blickte verwirrt und fragend den Fremden in Seemannstracht an, der unbemerkt eingetreten war und jetzt vor ihm stand. Auf einmal aber schien ihn eine Erinnerung zu durchblitzen; mit einem Aufschrei der Freude warf er sich an die Brust des Ankömmlings.

„Ist’s möglich, Hugo! Du schon hier?“

Zwei kräftige Arme umschlossen ihn fest und ein paar warme Lippen drückten sich wieder und immer wieder auf die seinigen.

„Kennst Du mich wirklich noch? Ich hätte Dich unter Hunderten herausgefunden. Freilich etwas anders siehst Du aus, als der kleine Reinhold, den ich hier zurückließ. Nun, mit mir mag es wohl auch nicht viel besser sein.“

Die ersten Worte klangen noch in tiefer Bewegung, die letzten hatten schon wieder einen etwas übermüthigen Ton. Reinhold’s Arm lag noch zärtlich um den Hals des Bruders.

„Und Du kommst so plötzlich, so ganz unangemeldet? Ich erwartete Dich erst in Wochen.“

„Wir haben eine ungewöhnlich schnelle Fahrt gehabt,“ sagte der junge Capitain heiter. „Und als ich erst einmal im Hafen war, litt es mich auch nicht eine Minute länger an Bord; ich mußte zu Dir. Gott sei Dank, daß ich Dich allein fand! Ich fürchtete schon, ich müsse das ganze Fegefeuer des heimathlichen Zornes passiren und mich mit der gesammten Verwandtschaft herumschlagen, um zu Dir zu gelangen.“

Reinhold’s Gesicht, das noch in der ganzen Freude des Wiedersehens strahlte, verdüsterte sich bei dieser Erinnerung und sein Arm sank langsam nieder.

„Es hat Dich doch noch Niemand gesehen?“ fragte er. „Du weißt, wie der Onkel gegen Dich gesinnt ist, seit –“

„Seit ich mich seiner hochweisen Bestimmung entzog, die mich durchaus an den Comptoirtisch schrauben wollte, und auf und davon ging?“ unterbrach ihn Hugo. „Ja, das weiß ich, und ich hätte den Lärm mit ansehen mögen, der im Hause losbrach, als sie entdeckten, ich sei durchgegangen. Aber die Geschichte ist ja beinahe zehn Jahre her. Der Taugenichts ist nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_380.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)