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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Anfrage des Buchhalters an den jungen Herrn Almbach. Dieser hieß den Mann gehen und wandte sich dann an seinen Bruder.

„Ich muß noch einen Augenblick in das Comptoir. Du siehst, ich gerathe nicht in Gefahr, in einer allzugroßen Romantik unterzugehen; dafür sorgen schon unsere Handlungsbücher, in denen vermuthlich wieder ein paar Thaler nicht vorschriftsmäßig eingetragen sind. Auf Wiedersehen, Hugo!“

Er ging, und der Capitain blieb allein zurück. Einige Minuten lang saß er noch wie in Gedanken versunken, während die Falte auf seiner Stirn immer tiefer wurde; dann auf einmal richtete er sich wie mit einem raschen Entschlusse empor und verließ gleichfalls das Gemach, aber nicht, um sich nach dem unteren Stocke zu dem Oheim und der Tante zu begeben; er ging geradewegs nach dem gegenüberliegenden Zimmer, das seine Schwägerin bewohnte.

Ella war in der That dort; sie saß am Fenster, den Kopf tief auf eine Handarbeit herabgeneigt, aber es hatte beinahe den Anschein, als sei diese in der Eile ergriffen worden, als die Thür sich so unvermuthet öffnete; das rasch bei Seite geworfene Taschentuch und die gerötheten Augenlider der jungen Frau verriethen eben erst getrocknete Thränen. Sie sah mit unverhehltem Erstaunen ihren Schwager eintreten. Es war allerdings das erste Mal, daß er sie in ihrem Zimmer aufsuchte; er kam auch nur bis in die Mitte desselben und blieb dort stehen, ohne sich ihrem Sitze zu nähern.

„Darf der ,Abenteurer‘ es noch einmal wagen, sich Ihnen zu nahen, Ella? Oder bannt ihn das über ihn ausgesprochene Verdammungsurtheil gänzlich von Ihrer Schwelle?“

Die junge Frau erröthete; sie drehte in peinlichster Verlegenheit die Arbeit zwischen den Händen.

„Herr –“

„Capitain!“ fiel Hugo ein. „Ganz richtig, so pflegen mich meine Matrosen stets zu nennen. Noch einmal diese Bezeichnung aus Ihrem Munde, und ich falle Ihnen sicher nicht wieder mit meiner Gegenwart lästig. Bitte, Ella, hören Sie mich heute an!“ fuhr er sehr entschieden fort, als die junge Frau Miene machte, aufzustehen. „Diesmal halte ich die Thür blokirt, durch die Sie bei meinem Nahen stets zu verschwinden pflegen; es ist auch zum Glück keine Magd in der Nähe, die Sie mit irgend einem Auftrage an Ihre Seite fesseln können. Wir sind allein, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, ich gehe nicht eher von der Stelle, bis ich entweder begnadigt werde, oder – den unvermeidlichen ,Herrn Capitain’ anzuhören bekomme, der mich ein- für allemal vertreiben soll.“

Ella hob die Augen empor und jetzt sah man es deutlich, daß sie geweint hatte.

„Was liegt Ihnen denn an meiner Verzeihung?“ entgegnete sie ruhig. „Mich haben Sie am wenigsten gekränkt; ich sprach nur im Namen meiner Eltern und Hausgenossen.“

„An denen liegt mir gar nichts,“ fuhr Hugo mit der ungenirtesten Aufrichtigkeit heraus. „Aber daß ich Sie gekränkt habe, das thut mir leid, sehr leid, das hat mir wie ein Alp auf der Brust gelegen bis zu diesem Augenblicke. Ich kann doch nicht mehr thun, als ehrlich und herzlich um Verzeihung bitten. Sind Sie mir noch böse, Ella?“

Er streckte ihr die Hand hin. Es lag in der Bewegung und in den Worten eine so warme, offene Liebenswürdigkeit und Aufrichtigkeit, daß eine Verweigerung der Bitte fast unmöglich schien, und Ella legte wirklich, wenn auch etwas zögernd, ihre Hand in die seinige.

„Nein,“ sagte sie einfach.

„Gott sei Dank!“ rief Hugo aufathmend. „Also endlich bin ich doch in meine Rechte als Schwager eingesetzt. Ich ergreife hiermit feierlich Besitz davon!“

Er ließ dem Worte die That folgen, indem er einen Stuhl heranzog und an ihrer Seite Platz nahm. „Wissen Sie, Ella, daß Sie mich seit unserer neulichen Begegnung ganz außerordentlich interessiren?“ fuhr er fort.

„Es scheint, man muß unartig gegen Sie sein, um Sie zu interessiren,“ bemerkte Ella, fast im Tone des Vorwurfs.

„Ja, es scheint so,“ stimmte der Capitain mit voller Gemüthsruhe bei. „Wir ,Abenteurer‘ sind nun einmal ein eigenes Volk und wollen anders behandelt sein, als die Normalmenschen. Sie scheinen bei mir durchaus das Richtige getroffen zu haben. Seit Sie mir damals so schonungslos den Text lasen, habe ich das ganze Haus in Ruhe gelassen; ich habe einen ganzen Ehrfurchts- und Achtungs-Cursus dem Onkel und der Tante gegenüber durchgemacht und sogar meine Indianergeschichten sämmtlicher haarsträubender Effecte beraubt, einzig aus Furcht vor gewissen strafenden Augen. Das kann Ihnen doch unmöglich entgangen sein.“

Es flog etwas wie ein halbes Lächeln über das Antlitz der jungen Frau, als sie fragte:

„Es ist Ihnen wohl recht schwer geworden?“

„Sehr schwer, obgleich die Verhältnisse hier im Hause es mir eigentlich hätten erleichtern sollen. Sie waren in der letzten Zeit nicht danach, daß man seinen Uebermuth daran hätte üben können.“

Bei dieser Hindeutung erlosch der flüchtige Schimmer von Heiterkeit sofort in Ella’s Gesicht; es hatte einen angstvoll bittenden Ausdruck, als sie sich jetzt zu ihrem Schwager wandte.

„Ja, es ist traurig bei uns,“ sagte sie leise, „und es wird schlimmer von Tag zu Tag. Die Eltern sind so hart, und Reinhold so gereizt, so heftig bei jeder Gelegenheit. O mein Gott, vermögen Sie denn gar nichts über ihn?“

„Ich?“ fragte Hugo ernst. „Die Frage möchte ich Ihnen, der Gattin, zurückgeben.“

Ella schüttelte in trostloser Resignation das Haupt. „Auf mich hört ja doch Niemand, und Reinhold am wenigsten. Er ist der Meinung, ich verstehe nichts von all diesen Dingen – er würde mich nur herb zurückweisen.“

Hugo blickte mitleidig auf die junge Frau, die so offen eingestand, daß sie ihrem Manne gegenüber ganz macht- und einflußlos war, und auch nicht den geringsten Antheil an seinem Denken und Streben hatte.

„Und doch muß irgend etwas geschehen,“ sagte er entschieden. „Reinhold reibt sich in diesem Kampfe auf; er leidet grenzenlos darunter und macht Andere leiden. Sie hatten geweint, Ella, als ich eintrat, und es ist in diesen Wochen kein Tag gewesen, wo ich nicht diesen rothen Schein um Ihre Augen gesehen habe. Nein, rücken Sie nicht so ängstlich seitwärts! Dem Bruder wird doch wohl einmal ein freies Wort erlaubt sein, und Sie sollen sehen, daß er auch etwas Anderes kann, als Possen treiben. Ich wiederhole Ihnen: es muß etwas geschehen, durch Sie geschehen. Es gilt Reinhold’s Künstlerberuf, seine ganze Zukunft, und in dem Kampfe muß seine Frau an seiner Seite stehen, sonst könnten es – Andere statt ihrer thun, und das wäre gefährlich.“

Ella sah ihn mit einem Gemisch von Erstaunen und Schrecken an. Es geschah ihr wohl zum ersten Male in ihrem Leben, daß man sie zur offenen Parteinahme aufrief, und sich von ihrem Eingreifen irgend eine Wirkung versprach. Und was konnte denn mit den „Anderen“ gemeint sein, die ihren Platz einnehmen könnten? Ihr Gesicht verrieth deutlich, daß sie auch nicht die leiseste Ahnung davon hatte.

Hugo sah das und hatte doch nicht den Muth, weiter zu gehen; denn weiter gehen hieß hier, den ersten Verdacht in die Seele der noch ganz ahnungslosen Frau werfen, zum Angeber des eigenen Bruders werden und unausbleiblich eine Katastrophe heraufbeschwören, von deren Nothwendigkeit er gleichwohl überzeugt war. Aber das ganze Wesen des jungen Capitains sträubte sich gegen diese peinvolle Aufgabe; er saß unentschlossen da, als ihm der Zufall zu Hülfe kam. Es wurde draußen an die Thür geklopft und gleich darauf trat Jonas mit einem großen Blumenstrauße in der Hand ein.

Der Matrose mochte sonst wohl vorsichtiger sein, wenn er dergleichen Aufträge für seinen Herrn besorgte. Er wußte aus Erfahrung, daß dessen Blumenspenden, wenn auch von den betreffenden jungen Damen, so doch nicht immer von den respectiven Vätern und Beschützern mit besonderer Freundlichkeit aufgenommen wurden, und pflegte sich, wenn auch mit geheimem Ingrimm, stets an die richtige Adresse zu halten. Diesmal aber hatte Hugo mit der hingeworfenen Bemerkung, der Strauß sei für seine Schwägerin bestimmt, den Irrthum selbst verschuldet. Jonas zweifelte natürlich nicht daran, daß die Bemerkung seines Capitains, mit der dieser nur seinen Bruder decken wollte, ernst gemeint sei; er schritt deshalb direct auf die junge Frau Almbach zu und präsentirte ihr die Blumen mit den Worten:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_428.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)