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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Eine Fluth von Erinnerungen stieg herauf und mit ihr die beglückende Gewißheit, daß die Angeschuldigte frei sei, frei durch mich, daß ich ein junges, vielversprechendes Leben vom geistigen Tode zu erretten vermöge. Neben mir saß der Berichterstatter eines Localblattes; vor ihm lag ein Bogen mit Aufzeichnungen über das Vorleben der Angeklagten, über den erwähnten Diebstahl, die ihm wahrscheinlich ein gefälliger Schreiber aus den Acten verschafft hatte. Ich erbat mir das Papier auf einen Augenblick und überflog es mit fieberhafter Hast, denn das Resumé des Präsidenten war zu Ende, schon verließen die Geschworenen ihre Plätze, um sich in’s Berathungszimmer zurückzuziehen.

Ich hatte gefunden, was ich suchte, und erhob mich von meinem Platze. Einer der Beisitzer des Gerichtshofs bemerkte es und machte den Präsidenten darauf aufmerksam.

„Sie wünschen, mein Herr?“ fragte dieser herüber.

„Ich bitte als Zeuge vernommen zu werden; ich habe eine Aussage zu machen, die für die Entscheidung vielleicht von Wichtigkeit sein wird.“

„Wollen Sie sich vor die Schranken bemühen. Die Herren Geschworenen ersuche ich einstweilen, ihre Plätze wieder einzunehmen.“

Ich kam der Aufforderung nach und trat in den Zeugenraum. Die große Aufregung, welche meine Worte hervorgerufen hatten, war durch einen Zwischenfall noch vergrößert; als die Angeklagte mich erblickte, meine Stimme hörte, stieß sie einen Schrei – man konnte nicht unterscheiden, ob des Schreckens oder der Freude – aus und verlor das Bewußtsein. Sie kam bald wieder zu sich und lauschte mit gesenktem Blicke und gefalteten Händen meiner Darlegung.

Die Personalien waren rasch erledigt, da ich mit einem der Richter persönlich bekannt war. Ich leistete den Zeugeneid und hob an:

„Gestatten Sie mir zunächst einen kurzen Ueberblick der Umstände, welche den Diebstahl begleiteten; der Herr Vorsitzende mag an der Hand der Voracten meine Aussage controliren.

Die Angeklagte trat im Jahre 1869 bei dem Herrn v. Y. ein und übernahm Mutterstelle bei seinen verwaisten Kindern. Zwei Jahre hat sie diese Stelle mit seltener Pflichttreue ausgefüllt, die Kinder hingen mit Liebe an ihr. Herr v. Y. war zufrieden. Da nahm sie am 5. April 1871 auf einen Tag Urlaub, um Verwandte in einer nahegelegenen Stadt zu besuchen; gegen Mittag verließ sie das Schloß. Um vier Uhr machte der Gutsherr einen Spaziergang durch den Park; als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, fand er die Thür seines unverschlossenen Secretärs offen; aus einem Schubfache, welches nur von kundiger Hand geöffnet werden konnte, waren ein Ring mit Brillanten und zwei Geldrollen von je hundertzwanzig Guldenstücken entwendet. Die alsbald vorgenommene Haussuchung erstreckte sich auch auf das Zimmer der Gouvernante; auf dem Grunde eines Korbes fand sich, unter Wäsche versteckt, der Ring und die eine Rolle; die andere fehlte.

Gegen neun Uhr Abends kehrte die Angeklagte in einer Miethskutsche zurück; auf Befragen nach ihrer Schuld leugnete sie dieselbe. Auch vor Gericht blieb sie bei ihrem Leugnen; sie stellte die nicht seltene Behauptung auf, der Gutsherr habe unsittliche Anträge an sie gewagt; sie habe dieselben entschieden zurückgewiesen und ihr Verhältniß als Erzieherin seiner Kinder gekündigt; die Anklage auf Diebstahl solle einen Druck auf sie ausüben. Noch im letzten Augenblicke habe Herr v. Y. sich bereit erklärt, die Anzeige zu unterlassen, wenn sie sich füge.

Der Gutsherr, der sich allerdings in sittlicher Hinsicht nicht des besten Rufes erfreute, bestritt entrüstet diese Behauptung, und es ließen sich keine weiteren Beweise für sie auffinden. Sonst waren alle Umstände gegen die Angeklagte. Sie war um halb ein Uhr mit dem herrschaftlichen Wagen in der Stadt eingetroffen und hatte ihn von dort zurückgesandt, da sie die Bahn zur Weiterfahrt benutzte; Abends gegen acht Uhr war sie wieder in der Stadt und miethete sich ein Lohnfuhrwerk. Ihre Angabe, sie habe sich bei ihren Verwandten aufgehalten, erwies sich als unwahr; nach der Anklage war sie insgeheim zum Schlosse zurückgekehrt und hatte dort den Diebstahl ausgeführt. Niemand hatte sie in der Zeit von ein Uhr Mittags bis acht Uhr Abends gesehen. Ein Alibi, das sie zu führen versuchte, mißlang. Sie wurde verurtheilt.

Jetzt, meine Herren, komme ich zu meiner Betheiligung an der Sache. Es war ein sonniger Frühlingstag, als ich von einem Spaziergange nach der Stadt zurückkehrte. Ich war glücklich wie nie; heute hatte ich es zum ersten Male gewagt, dem Mädchen, welches ich liebte, offen vor ihren Eltern einen Beweis meiner Zuneigung zu geben: ich hatte ihr einen Strauß Blumen und Heine’s Buch der Lieder zum Geburtstage gesandt, und sie hatte die Gabe mit freundlichem Danke entgegengenommen.

Ich kam am Friedhofe vorüber. Es ist eigen, gerade in jener Stunde höchsten Glückes fühlte ich mich von der Stätte ewiger Ruhe angezogen. Ich betrat den Raum; er war menschenleer. Erst nach längerm Hin- und Herwandeln entdeckte ich in der fernen Ecke eine weibliche Gestalt. Sie knieete, ganz nach vorn gebeugt. Ich ging hinzu und fand die Dame ohnmächtig. Schnell eilte ich nach Wasser; als ich zurückkehrte, war sie bereits wieder zum Bewußtsein gekommen. Ich kann mir die Wiederholung aller Worte ersparen; ich erzählte ihr von meinem Glücke; sie vertraute mir ihren Schmerz an. Ohne Namen zu nennen, theilte sie mir mit, daß sie einen jungen Kaufmann lieb gewonnen habe, daß sie hoffen konnte, einst sein Weib zu werden. Da kam das Jahr 1870 und mit ihm die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit. Der junge Mann verwarf sie; er wollte seiner alten Religion treu bleiben. Von da ab begann eine unendliche Kette von Verfolgungen; mächtige Mitglieder der papistischen Partei wußten seinen Credit zu untergraben, alle seine Unternehmungen scheitern zu machen. Er fühlte in dem vergeblichen Ringen seine Kräfte schwinden; nach wenigen Monaten legte er sich auf das Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erhob. Die christliche Gesinnung des katholischen Geistlichen gönnte ihm einen Ruheplatz in der Armensünderecke des Friedhofes.

‚Heute,‘ sagte die junge Dame, ‚feiere auch ich einen Geburtstag, den meines Bräutigams; ich wollte ihn nicht vorübergehen lassen, ohne einen Kranz auf sein Grab zu legen. Meine Verwandten, die einzigen Freunde, welche ich noch auf der Welt habe, dürfen davon nichts erfahren; sie würden sich von mir lossagen, wenn sie von meiner Liebe zu einem Abtrünnigen wüßten. Darum bin ich heimlich hierhergekommen; ich habe die Landstraße vermieden und Waldwege aufgesucht; ich glaube, außer Ihnen hat mich Niemand gesehen.‘

Ich habe nicht das Recht,“ schloß ich meine Rede, „mehr von dem Geheimnisse eines fremden Herzens zu enthüllen, als unbedingt nothwendig ist; ich führe nur Das an, was zur Erläuterung meiner Versicherung dient: Auf meine Ehre und auf mein Gewissen, jene Begegnung fand über zwei Meilen von dem Gute des Herrn v. Y. statt. Das Mädchen, von dem ich gesprochen, war die Angeklagte, Tag und Stunde der 5. April 1871, Nachmittags gegen vier Uhr.“

Ich schwieg. Die Dame, die bis dahin gefaßt dagesessen, brach jetzt in Thränen aus. Selbst Männer sah ich weinen.

„Sie kennen die Dame bestimmt wieder?“ fragte der Vorsitzende.

„Ja. Sie mögen sich selbst überzeugen. Das Mädchen auf dem Friedhofe trug dicht unter dem rechten Ohr ein dreieckiges, etwa erbsengroßes Mal.“

Richter und Staatsanwalt schauten auf die Angeklagte hin und nickten beistimmend.

„Aus den Acten ist ersichtlich,“ fuhr der Vorsitzende fort, „daß die Dame bei ihrer Vernehmung nach anfänglichem Zögern eine Aussage gemacht hat, welche mit der Ihrigen übereinstimmt. Es ist daraufhin durch die öffentlichen Blätter ein Aufruf an den unbekannten Herrn erlassen, mit dem sie auf dem Friedhofe zusammengetroffen. Darf ich fragen, warum Sie sich nicht gemeldet haben?“

„Wenige Tage nach der Begegnung warf mich eine schwere Krankheit darnieder, in der ich wochenlang mit dem Tode rang. Wohl zwei Monate hindurch habe ich keine Zeitung zu Gesicht bekommen.“

Der Staatsanwalt erhob sich.

„Ich stelle den Herren Geschworenen anheim, ob Sie nach dem eben Gehörten sich der Auffassung der Vertheidigung anschließen wollen, daß die Angeklagte bei dem Eide die vier Wochen Gefängniß nicht als Strafe, sondern als ein ihr zugefügtes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_451.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)