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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Unterrichts. Anregend und anfeuernd wirkte er auf alle, auch auf kühlere Naturen; die ihn selbst durchglühende Begeisterung für alles Schöne, für Kunst und Künstlerberuf verstand er in einem Jeden zu erwecken. Allerdings erwuchs ihm aus dieser seiner Lehrthätigkeit der unberechenbare Vortheil, daß er, wie bekannt, das Orchester nach und nach mit Violin-Künstlern zu besetzen vermochte, die er sich selbst herangebildet hatte. Wie hat er aber auch sein Lehramt auf seinem Herzen getragen und ihm mit unablässiger Treue obgelegen! Wie vielen Unbemittelten auch erwies er unentgeltlich die Wohlthat seines Unterrichts!

So vielverzweigt seine Thätigkeit war, die Pflicht gegen seine Schüler ging Allem voran, selbst der Rücksicht auf seine in den letzten Jahren in Folge eines Herzleidens erschütterte Gesundheit. Nimmer, ob er auch rastlos schuf und strebte, that er sich selbst genug; in ununterbrochener Folge sollte, so forderte er, die ihm eingeborene eiserne That- und Willenskraft sich bewähren. „Er verlor nie eine Minute,“ rühmt Ferdinand Hiller in seinem schönen Nachrufe von ihm. In den freien Augenblicken der Conservatoriumsprüfungen z. B. zeichnete er, wie er denn niemals aufhörte, die von Kindheit an geübte Kunst zu pflegen. Während einer gemeinsamen Rückreise von Prag spielte er seinem Freunde Moscheles im Eisenbahnwagen auf der Geige vor, und hatte er sein Instrument aus der Hand, die Feder bei Seite gelegt, „war ihm die allerbeste Lectüre gerade gut genug“. Auch für Alles, was außerhalb seiner Kunst Bedeutendes geschah und geschrieben wurde, gab er das lebhafteste Interesse kund. So zählte die Leipziger geographische Gesellschaft ihn zu ihren eifrigsten Mitgliedern; in ihren Sitzungen hat man ihn kaum je vermißt. Voll Geist und schlagenden Witzes, lebendigen, ja feurigen Naturells, sah man in ihm den willkommensten Gesellschafter, wo er auch erschien. Den Seinen war er der treueste Gatte und Vater, seinen Kunstgenossen ein heiterer Gastfreund, ein gewissenhafter Berather, je nachdem man das Eine oder Andere bei ihm zu suchen kam.

Trotz alledem hat es ihm ebensowenig an Gegnern gefehlt, wie den meisten künstlerischen Größen. Sein nervöses Temperament und der damit zusammenhängende häufige Wechsel seiner Stimmungen, sein energisches, vielleicht nicht immer gemäßigtes Auftreten in künstlerischen Angelegenheiten haben ihm manchen Feind geschaffen. Er war ja eine so unmittelbare, impulsive Natur, daß die Eindrücke, welche er empfing, sympathische und antipathische, sich offen und unzweideutig von seinem Aeußeren ablesen ließen.

Auch für die oppositionelle Haltung der Gewandhausdirection gegenüber mehreren der bedeutendsten neueren Kunsterscheinungen hat man ihn vorzugsweise verantwortlich gemacht. Mit Unrecht, wie Wilhelmj meint, der im Gegentheil die Vielseitigkeit und Unbefangenheit seines Urtheils anerkennend hervorhebt. Es ist gewiß, seine Kunstideale lagen diesseits der classischen Richtung, und mit Vorliebe hat er ihr immerdar seine Kräfte gewidmet; doch sollte ihm billig kein Vorwurf daraus erwachsen, daß er, dessen Entwickelungs- und Blütheperiode einer früheren Zeit angehörte, das Banner derselben hochgehalten und seinem Bekenntnisse treu geblieben bis zum letzten Athemzuge.

So unausgesetzt, Jahrzehnte hindurch, treuester Berufserfüllung hingegeben, hat Ferdinand David manchen Wechsel in den Musikverhältnissen Leipzigs mit ansehen müssen. Dem frühen Tode Mendelssohn’s folgte Schumann’s Weggang; dann gingen Hauptmann und Moscheles schlafen – er war der Letzte, der als thätiger Zeuge einer großen Vergangenheit übrig blieb. Wohl klopfte im Herbste des Jahres 1872 der Tod auch an seine Thür – doch ging er noch einmal vorüber: der schwer erkrankte Meister gesundete wieder und ward mit Jubel in Gewandhaus und Conservatorium als genesen begrüßt. Der Arzt hatte gewünscht, er solle dem Kunsttreiben entsagen; aber das konnte er nicht. „Ohne meine Kunst zu leben, wäre ja erst mein Tod,“ meinte er. Als er im neunzehnten Abonnementconcert das von ihm selbst bearbeitete Bach’sche D-moll-Concert spielte, wollten die Aeußerungen der Dankbarkeit kein Ende nehmen; sein großer edler Ton, der wundervolle Gesang, das jugendliche Feuer seines Vortrags entzückte uns Alle – und eben da nun haben wir ihn zum letzten Male gehört.

Am 14. Juni 1873 verließ er Leipzig, um, wie er dies seit 1870 alljährlich zu thun pflegte, in Tarasp und Klosters in der Schweiz die Badecur zu gebrauchen. Zwei seiner Töchter (er hinterließ deren fünf) und sein in England als Musiklehrer lebender Sohn begleiteten ihn. Wenige Stunden vor seiner Abreise noch versammelte er seine Schüler im Conservatorium zum Unterrichte um sich. „Ich muß doch ordentlich Abschied nehmen,“ entgegnete er einer Freundin, die ihm besorgt davon abrathen wollte. Heiter und anscheinend wohl, erfreute er sich in Tarasp viel am Verkehr mit Berthold Auerbach, dem er schon früher befreundet war. Ohne Musik verging ihm kein Tag; sein Sohn mußte auf dem Clavier sein Spiel begleiten. So probirten Beide in Klosters, wohin David mit den Seinen am 7. Juli übersiedelte, noch das letzte Manuscript, das er daselbst beendete, eine Uebertragung Chopin’scher Mazurken für Violine, und begeistert lauschten die anwesenden Curgäste allabendlich dem Klange seiner Geige. Sie überboten sich in Aufmerksamkeiten für den berühmten Meister und hatten noch für den Tag, an dem er der Welt entrissen ward, ein Ständchen als Ueberraschung für ihn vorbereitet. Täglich auch wurden Spaziergänge in die herrliche Umgebung gemacht. Während eines solchen Ausflugs, auf dem Wege nach der Clubhütte am Silvretta, traf ihn plötzlich der Tod. „Da hinauf möchte ich nicht und wenn die zehnte Symphonie von Beethoven im Manuscript oben läge,“ hatte er, auf den Silvrettagletscher deutend, wenige Minuten zuvor gesagt. Trotz der Anstrengung des Steigens aber fühlte er sich frei und leicht. „Du glaubst gar nicht, wie wohl mir heute ist,“ versicherte er noch seiner jüngsten Tochter, die an seiner Seite ging. Einige Augenblicke später sank er neben ihr zusammen und hauchte in ihren Armen seinen letzten Seufzer aus. Er hatte geahnt und prophezeit, daß es einmal so kommen würde; Vater und Geschwister waren ihm in ähnlich unerwarteter Weise vorangegangen. Noch kurz vor seiner Abreise hatte er sich während seines liebsten Ganges auf den Kirchhof ein „einfaches schwarzes Kreuz mit seinem Namen“ als dereinstigen Grabschmuck erbeten, wie er ihm nun auch geworden ist. Drauf lesen wir noch die Worte des von ihm componirten Psalms: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hülfe kommt“, dieselben, welche Pastor Ahlfeld auch als Text seiner Rede am Sarge wählte. „Zu den Bergen“ hatte er ja in Wahrheit sterbend seine Augen aufgehoben.

Eine marmorne Gedenktafel, in einen Felsblock eingelassen, von einigen mit ihm gemeinsam in Klosters gegenwärtigen Züricher und Baseler Familien pietätvoll errichtet, bezeichnet die Stelle, wo Ferdinand David am 18. Juli 1873 gestorben. Dieselbe liegt achttausend Fuß hoch am Fuße des Silvrettagletschers, unterhalb der Hütte des Schweizer Alpenclubs. Nicht in fremder Erde jedoch sollte er ruhen – seine Kinder haben ihn wieder heimgebracht. Am Nachmittag des 24. Juli ward er unter Theilnahme der gesammten Einwohnerschaft Leipzigs begraben, mit Ehren, wie man sie nur den Großen dieser Welt erweist. Neben Moscheles, dem Freund, der ihm im Leben nahe gestanden, schläft er nun. Im Herzen des dankbaren Leipzigs aber leben sie Beide fort, vereint und unvergessen.




Blätter und Blüthen.


Ein Wunder aus Feldkirch. „Nichts macht den Menschen einfältiger und blinder als fanatischer Glaube,“ meinte mein Freund X. „Das habe ich als Zögling des Jesuitenklosters in Feldkirch oft genug erfahren; am drastischsten aber beweist die Wahrheit dieses Satzes ein toller Steich, den ich meinem Mitschüler, einem Berliner mit Namen W…dorf, gespielt habe, Dieser W…dorf war im ganzen Kloster wegen seiner übergroßen Frömmigkeit bekannt und stand fast im Geruche eines halben Heiligen. Man wußte, daß er Abends in seiner Zelle noch stundenlang auf den Knieen lag, ehe er sich endlich unter ascetischen Seufzern zur Ruhe begab. Um nun diesen Jugendübungen ein besseres Relief zu geben, verfiel ich mit einem ebenso weltlich gesinnten Complicen auf die Idee, in W…dorf’s Zelle eine übernatürliche Erscheinung zu veranstalten. Zum bessern Verständnisse schalte ich ein, daß unser gemeinschaftlicher, sehr großer Schlafsaal aus zwei Reihen Betten bestand, welche rechts und links an den Wänden standen und so in der Mitte einen freien Gang offen ließen. Getrennt waren die Betten durch spanische Wände und die so gebildeten Zellen nach dem Mittelgange durch eine Gardine verschließbar, Eines Abends schrieb ich nun auf die dieser Gardine gegenüberliegende Wand mit Phosphor die Worte:

‚W....dorf, Du bist heilig!‘


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_457.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)