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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Brüllen, das sich wie ein Gähnen dehnte und in geringer Entfernung von mir erschallte, elastisch empor. Mit einem Schlage erklärte ich mir das Benehmen der Javaner und das Mißliche meiner Lage. Den Ersteren jetzt noch nachzulaufen, war doppelt unthunlich, und demnach zwang mich die Gefahr zu einem schnellen Entschlusse. Auf dem freien Platze durfte ich nicht bleiben, – mich im Gebüsche verstecken, hieße meinen Körper möglicher Weise in den Weg des Tigers legen, – den Kampf mit einer Bestie aufnehmen, von welcher behauptet wird, daß sie Menschensteaks mit demselben Wohlbehagen verzehre wie der Mensch saftige Beefsteaks, schien mir durchaus precär, – so kletterte ich denn, einer Inspiration folgend, möglichst eilig auf den Baum, unter dessen Zweigen ich gestanden hatte. Der Baum, blätterreich und mit breiten Aesten versehen, gewährte einen leidlich guten Sitz, zu welchem ich meine Doppelbüchse mit hinaufgezogen hatte, deren erster Lauf schon vorher entladen, während der andere noch schußfähig war. Munition hatte ich keine bei mir, denn diese war in Begleitung eines einläufigen Gewehres mit meinem „Oberbüchsenlader“ entflohen.

Ich mochte mit stark erregten Pulsen wenige Minuten auf dem Baume gesessen haben, Minuten, die aber genügten, ein Heer von Besorgnissen, Vermuthungen und Plänen durch meinen Kopf ziehen zu lassen, als ein Knistern von trockenen Reisern meinen Blick nach einer Seite des Platzes lenkte, aus welcher gleich darauf mit phlegmatischen Schritten, scheinbar faul oder ermüdet, ein mächtiger Tiger trat, dessen Größe und dessen gestreiftes Fell ihn als einen „Königstiger“ kennzeichneten. Nicht weit über seinem Kopfe flogen die oben erwähnten Vögel umher, ohne daß dadurch das stolze Thier irgendwie belästigt zu werden schien. Die Vögel, durch deren Gebahren der Javaner die Anwesenheit des Tigers zuerst bemerkt hatte, verfolgen, wie ich später hörte, diesen oft stundenlang, um Gelegenheit zu haben, sich an den Ueberresten der Mahlzeit zu laben, welche er verzehrt. Ich bekam die linke Seite der prachtvollen Gestalt voll zu Gesicht. Mein Muth schwoll bedeutend, als ich mich der Thatsache erinnerte, daß ein bengalischer Königstiger keine Bäume erklettert, sondern diese Manipulation den ihm untergeordneten Racen der gefleckten kleineren Tiger, Panther, Jaguars u. dgl., höchstens noch einem erschreckten Menschenkinde überläßt.

Dieses Gefühl der momentanen Sicherheit machte mich übermüthig, und ohne mir genauere Rechenschaft zu geben, was ich that, legte ich den Lauf meiner Büchse fest an den Baumstamm, zielte und drückte in dem Augenblicke ab, in welchem der Tiger die gegenüberliegende Seite des Platzes erreicht hatte und in das Gebüsch dringen wollte. Ein kurzes schmetterndes Brüllen, dessen furchtbare Schärfe meinen Athem stocken machte, ein mächtiger Satz des Thieres in das Buschwerk hinein, knackendes Zertreten trockener Aeste, das Aufkreischen der erschreckten davonfliegenden Vögel, die lärmende Flucht einiger Affen, die auf den benachbarten Bäumen ihr Wesen getrieben hatten – dies Alles war das Werk einiger Secunden, und dann folgte eine unheimliche Stille, in welcher ich deutlich mein Herz gegen die Brustwand klopfen hörte. Der Pulverdampf verzog sich langsam aufwärts durch die von keinem Winde bewegten Blätter des mich tragenden Djatibaumes. Von dem Tiger war keine Spur zu sehen. Doch war es mir nach einiger Zeit, als hörte ich ein schnell vorübergehendes dumpfes Stöhnen und ein scharrendes Geräusch aus der Gegend, in welcher das Thier meinen Augen entschwunden war. Ich wußte sicher, daß meine Kugel einen festen Gegenstand, ja den Tiger selbst erreicht hatte; dennoch zweifelte ich mit dem einem Jäger eigenen „Instincte“, daß die Herzgegend der Gestalt, auf welche ich aus einer ungefähren Entfernung von fünfzig Schritt gezielt hatte, getroffen worden war.

Meine Vorsicht überwog meinen Beuteeifer bei Weitem, und hielt mich von einem Aufgeben meiner Position um so dringender ab, als ich der Meinung war, aus der Ferne ähnliche Laute zu vernehmen, wie solche mich zur Turnübung des Kletterns veranlaßt hatten. Vielleicht war dies nur ein Nachklang der erstgehörten „Musik“, eine akustische Täuschung, die mich beschäftigte. Aber sicherlich hatte ich nicht bemerkt, wie der meiner Ansicht nach verwundete Tiger, das trockene Laubwerk durchbrechend, meinen Observationsposten geflohen war. Ich glaubte ihn noch in der Nähe – und wie so oft absonderliche Begebenheiten auch absonderliche Ansichten erzeugen, so bildete ich mir ein, er lauere im nahen Verstecke auf seinen Mann.

Wenige Wochen vorher war mir erzählt worden, wie ein Tiger tagelang unter einer Kokospalme, auf welche ein Malaye vor ihm geflüchtet war, wartend gelegen hatte. Ruhig, ohne sich zu regen, die Augen ununterbrochen auf sein vermeintliches Opfer richtend und mit grausamer Ueberlegung den Moment abpassend, in welchem die Erschöpfung und der Hunger den Menschen in seine Klauen bringen mußte, wurde der Belagerer von einem Haufen Inländer verjagt, welche das verzweifelte Hülfegeschrei des Belagerten endlich herbeigeführt hatte. Warum sollte ich nun weniger begehrenswerth sein, als jener Malaye? Oder weshalb sollte der eine Tiger weniger schlaue und rachsüchtige Gedanken hegen als ein anderer? Diese Fragen traten mit um so niederschlagenderer Wirkung auf mich zu, weil die bereits begonnene Abenddämmerung mit der in den Tropen eigenthümlichen Hast in nächtliche Dunkelheit überzugehen anfing. Je mehr dies der Fall war, desto deutlicher glaubte ich die tückisch blitzenden Augen der Bestie in dem Gebüsche zu erkennen, desto häufiger wähnte ich Geräusche, wie Kratzen und Schnaufen, zu vernehmen. Es drängte sich mir die Ansicht auf, daß es für meinen Körper reichlich so vortheilhaft sei, auf einem Baume, als in dem Magen eines Raubthieres zu übernachten, ganz abgesehen davon, daß der Tiger weder als ein Walfisch, noch ich als ein Jonas debütiren konnten.

Mit Sicherheit war vorauszusehen, daß mein über das Ausbleiben seines Gastes besorgter Wirth am frühen Morgen nach den etwaigen Ueberresten meiner Gebeine ausschauen und mich erlösen würde. Ich suchte mir den bequemsten Ast zum Nachtlager aus, schlang die seidene Schärpe, welche meine Inexpressibles zu umarmen pflegte, theils um meinen Körper, theils um den Baumstamm selbst, um ein durch etwaiges Einschlafen verursachtes Hinunterfallen zu verhüten, und fügte mich dann mit der besten Miene von der Welt in das Unvermeidliche. Man erlasse mir den Versuch, durch eingehende Beschreibung diese Nacht nochmals zu durchleben. Es genüge die Bemerkung, daß ich nicht schlief, daß ich unzählige Male meine Stellung zu wechseln und durch stetes Blätterkauen meinen trockenen Gaumen zu erfrischen suchte, daß ich oftmals erschreckt wurde durch unerklärliche Laute über mir und unter mir, daß mein Kampf mit Insecten, besonders mit Ameisen, keinen Waffenstillstand zuließ, und daß die Lebensvorsätze, welche in jenen langen Stunden in mir keimten, für die Zukunft im Allgemeinen, für die nächstkommenden Tage im Besonderen nichts zu wünschen übrig ließen. Weder die durch das letzte Erdbeben verursachten Trümmer von Djokdjokarta, noch der berühmte Harem des Sultans jenes Platzes, weder die köstlichen Mangostanfrüchte von Mitteljava, noch die Ruinen von Borobodor sollten im Stande sein, mich weiter nach dem Inneren der Insel zu locken, nahm ich mir vor. Eher an den Küstenplätzen die Gefahr des gelben Fiebers an sich vorüberziehen lassen, als in dem Binnenlande eine sichere Beute der Raubthiere werden!

Kaum begann das erste Morgendämmern den Himmel aufzuhellen, so hörte ich in der Entfernung Schüsse und Rufe, die, meinem Baume sich nähernd, bald von mir erfolgreich beantwortet wurden. Kurze Zeit darauf sah ich einen Schwarm Javaner, in ihrer Mitte Freund W., auf dem Platze versammelt, mich mit freudigem Zurufe begrüßend. Da sich bei dieser lauten Affaire der Tiger durchaus nicht bemerkbar machte, so ließ ich mich, nicht ohne Mühe, zur Erde nieder, um sofort einige Minuten lang meine steifen Glieder auf dem Boden auszustrecken.

Ich war nicht getäuscht worden in der Annahme, daß sich der Tiger während der Nacht in meiner Nähe aufgehalten hatte, denn man fand ihn wirklich – todt. Meine Kugel hatte zwar das Herz verfehlt, aber, durch einen mir wohlwollenden Zufall gelenkt und gleichsam zur Verhöhnung meines Schützentalents, den Kopf dicht hinter dem Ohre so glücklich durchbohrt, daß der Tod beinahe augenblicklich eingetreten sein mußte. Da ich bei allem Glücke den Hauptschaden in diesem für meine Knochen so denkwürdigen Abenteuer davongetragen hatte, so ließ naturgemäß der Spott nicht auf sich warten. Herr W. meinte, ich sollte nur Muhamed danken, daß die fliegenden Hunde mein Nachtquartier nicht auch zu dem ihrigen gemacht hätten, denn dann wäre ich den Vampyren rettungslos verfallen gewesen. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_467.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)