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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Ich glaube, die elegische Atmosphäre in Mirando hat mich angesteckt,“ murmelte er ärgerlich. „Ich fange jetzt auch an, die einfachsten Dinge vom ideal-romantischen Standpunkte aufzufassen. Was ist denn eigentlich an dieser Begegnung, daß ich so gar nicht darüber hinauskommen kann? Die Erlau’schen Salons sind eben eine gute Schule gewesen, und die Schülerin hat über Erwarten leicht und schnell begriffen. Geahnt habe ich längst so etwas und doch – Thorheit, was geht es mich denn an, wenn Reinhold schließlich seine Blindheit bereuen lernt! Und sie weiß noch nicht einmal, wie nahe er ihr ist, so nahe, daß eine Begegnung auf die Dauer nicht ausbleiben kann. Ich fürchte, der Versuch einer Annäherung käme Reinhold dieses Mal noch viel theurer zu stehen als jener erste. Was war das für ein seltsam eisiger Ausdruck in ihrem Gesichte, als ich auf die Möglichkeit einer Versöhnung hindeutete! Das,“ – hier athmete Hugo auf, in vielleicht unbewußter, aber tiefster Genugthuung – „das sprach ‚Nein‘ bis in alle Ewigkeit. Und wenn sie jetzt auch Zufall oder Schicksal wieder zusammenführt, jetzt ist’s zu spät – jetzt hat er sie verloren.“




Ueber den blauen Spiegel der Fluth glitt ein Boot, das, von S. kommend, die Richtung nach Mirando nahm. Das zierliche Aussehen der Barke ließ sie als das Eigenthum irgend einer reichen Familie erkennen, und die beiden Ruderer trugen die Farben des Hauses Tortoni. Für den Herrn jedoch, der sich außerdem noch im Boote befand, schien weder die schwebend schnelle Fahrt noch das herrliche Panorama ringsum auch nur das mindeste Interesse zu besitzen. Er lehnte, wie schlafend, mit geschlossenen Augen in seinem Sitze und blickte erst auf, als das Fahrzeug an der Marmortreppe anlegte, die von der Terrasse der Villa direct in’s Meer hinab führte. Er stieg aus. Ein Wink verabschiedete die beiden Leute, die, wie die gesammte Dienerschaft des Marchese, gewohnt waren, dem berühmten Gast ihres Herrn fast noch größeren Respect als diesem selbst zu erweisen. Einige Ruderschläge trieben das Boot seitwärts, und gleich darauf legte es drüben am Parke in einem kleinen Hafen an.

Reinhold betrat die Stufen und stieg langsam hinauf. Er kam von S. her, wo Beatrice inzwischen eingetroffen war. Wie gewöhnlich war die Künstlerin auch hier, wo alle Fremden und Einheimischen von Bedeutung sich zur Villeggiatur zusammenfanden, von Bekannten umringt und mit Huldigungen umgeben worden, und Reinhold befand sich kaum an ihrer Seite, als auch ihm, und zwar in noch höherem Maße, dieses Schicksal zu Theil wurde. In Beatrice’s Nähe gab es nun einmal für ihn kein Ausruhen und keine Erholung; sie zog ihn sofort wieder in den Strudel hinein. Aus den Stunden, die er bei ihr zubringen wollte, waren Tage geworden, die an Aufregung und Zerstreuung den letzten Wochen in der Stadt wenig nachgaben, und nachdem er sie gestern Abend noch zu einer größeren Festlichkeit begleitet, welche die ganze Nacht hindurch bis an den lichten Morgen währte, hatte er sich endlich mit Tagesanbruch losgerissen und sich in’s Boot geworfen, um nach Mirando zurückzukehren.

Er athmete tief auf bei der Stille und Einsamkeit, die ihn hier umfing und die nicht einmal durch einen Gruß oder Empfang gestört wurde. Cesario hatte, wie er wußte, heute bereits in aller Frühe und in Begleitung Hugo’s einen Ausflug nach der benachbarten Insel unternommen, von dem beide erst gegen Abend zurückerwartet wurden, und für Fremde war die Villa jetzt nicht zugänglich. Der junge Marchese liebte es nicht, in der Einsamkeit seiner Villeggiatur gestört zu werden, und der Verwalter hatte Befehl erhalten, während seiner Anwesenheit keine fremden Besucher zuzulassen, ein Befehl, der in vollster Strenge aufrecht erhalten wurde, zum großen Mißvergnügen der Fremden, denen Mirando als ein beliebtes Ziel ihrer Ausflüge galt. Die Besitzung mit ihren weiten Gärten und prachtvollen Gebäuden, die man im Norden unbedingt ein Schloß genannt hätte, und die hier nur den bescheidenen Namen einer Villa führte, war weitberühmt, nicht allein wegen ihrer paradiesischen Lage und des unbegrenzten Blickes auf das Meer hinaus, sondern auch wegen der reichen Kunstschätze, die sie in ihrem Innern barg und die jetzt nur das Auge der Wenigen entzückten, die das Glück hatten, sich die Gäste des Marchese nennen zu dürfen.

Ueberwacht, ermüdet, und doch unfähig, Schlaf und Ruhe zu suchen, warf sich Reinhold auf eine der Marmorbänke im Schatten der Säulenhalle; er fühlte sich abgespannt bis zur äußersten Erschlaffung. Jawohl, diese schwülen italienischen Nächte, mit ihrem betäubenden Blüthenduft und ihrer mondbeglänzten Ruhe oder dem rauschenden Festesjubel, diese sonnenhellen Tage mit dem ewig blauen Himmel und der glühenden Farbenpracht der Erde, sie hatten ihm alles gegeben, was er nur je im kalten trüben Norden davon geträumt, aber sie hatten ihm auch den besten Theil seiner Lebenskraft gekostet. Die Zeit war längst vorüber, wo dem jungen Künstler das ganze Dasein nur ein Wechsel war von glühendem Rausch und beseligenden Träumen. Das hatte monden-, jahrelang gewährt – dann war allmählich die Ermüdung gekommen und dann zuletzt das Erwachen, wo diese herrliche farbenglänzende Welt so kalt und leer vor ihm lag, wo die Ideale zusammensanken und die einst so heiß ersehnte Freiheit zur grenzenlosen Oede wurde, die keine Pflicht, aber auch keine Sehnsucht mehr begrenzte. Mit den Fesseln, die er so energisch und rücksichtslos gesprengt, hatte er auch den Zügel verloren; er schweifte hinaus ins Schrankenlose, und die Schrankenlosigkeit war ihm zum Fluche geworden. Den Künstler bewahrte freilich der Prometheusfunke in seinem Inneren vor dem Schicksal, das so viele Andere ereilte, vor dem rettungslosen Versinken in diese Ernüchterung und Gleichgültigkeit gegen alles, aber dieselbe Macht, die ihn immer und immer wieder daraus emporriß, jagte ihn auch ruhelos umher, dem Einen nie Erreichten nach, das er nicht zu nennen wußte, und von dem er nur fühlte, daß es ihm fehle und ewig fehlen werde. Italien in all seiner Schönheit hatte es ihm nicht zu geben vermocht, nicht die glühende Liebe Beatricens und nicht die Kunst, die ihm doch den vollsten Ruhmeskranz gereicht – das Phantom zerfloß, sobald er die Arme danach ausstreckte. Und wenn die Wunderblüthe des Südens sich ihm auch geöffnet hatte in ihrer ganzen berauschenden Pracht – die blaue Märchenblume hatte er nicht gefunden. –

Reinhold schreckte plötzlich empor aus seinen Träumereien. Irgend etwas hatte ihn darin gestört. War es ein Schritt, ein Rauschen gewesen – er erhob sich und sah mit grenzenlosem Erstaunen eine Dame nur wenige Schritte entfernt auf der Terrasse stehen und in das Meer hinausblicken. Was sollte das heißen? und wie kam diese Fremde hierher, jetzt wo Mirando doch für Besucher nicht zugänglich war? Sie konnte erst vor wenigen Minuten aus der noch offenen Thür getreten sein, die in den Saal führte, der die berühmte Gemäldesammlung der Villa enthielt, und schien den einsamen Träumer in der Säulenhalle so wenig bemerkt zu haben, wie er sie.

Reinhold war längst auch gegen Frauenschönheit gleichgültig geworden, aber diese Erscheinung fesselte ihn doch unwillkürlich. Sie stand im Schatten einer der riesigen Vasen, welche die Terrasse schmückten; nur das etwas vorgeneigte Haupt wurde von dem vollen Sonnenlicht getroffen und die schweren blonden Flechten schimmerten in dem Strahle wie gesponnenes Gold. Das Gesicht war zur Hälfte abgewendet. Man sah kaum das zarte, rein und edel gezeichnete Profil. Die schlanke Gestalt im luftig weißen Gewande lehnte leicht in unbeschreiblich graziöser Haltung an der Marmorbalustrade; die linke Hand stützte sich darauf, während die herabhängende Rechte den blumengeschmückten Strohhut hielt. Sie stand unbeweglich, ganz im Anblick des Meeres versunken und hatte augenscheinlich keine Ahnung davon, daß sie beobachtet wurde.

Es war noch früh am Tage. Der Morgen war in leuchtender Klarheit aus dem Meere emporgestiegen und lag jetzt sonnig lächelnd in thauiger Frische über der ganzen Umgebung. Noch umwob blauer Dunst das Vorgebirge und die fernen Küsten, deren Linien wie hingehaucht am Horizont zu schweben schienen, und in der Luft flimmerte es noch wie feuchter Silberglanz. Es lag etwas Märchenhaftes in dieser Morgenstunde und dieser Umgebung, vor Allem in der weißen Gestalt da drüben mit dem goldschimmernden Haar, und wie ein Märchenschloß, das aus der feuchten Tiefe emporgestiegen, erschien auch Mirando mit seinen weißen Marmorsäulen und Terrassen. Tiefblau wölbte sich der Himmel darüber hin und tiefblau rauschte das Meer zu seinen Füßen. Aus den Gärten wehte der Blüthenduft herüber, aber geisterhafte Stille umfing Alles, als sei jedes Leben hier gebannt oder in Schlaf versunken. Kein Ton ringsum, nichts als das leise Wallen des Meeres, der immer gleiche, träumerische Laut der Wellen, welche die Marmorstufen küßten, und vor den Blicken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_508.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)