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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

indem er ihr mitten im Regen eine tadellose Salonverbeugung machte. „Und jetzt werde ich mich an die Spitze des Entdeckungszuges stellen, der in’s Innere geht. Voran, Jonas, und recognoscire das Terrain! Reinhold, Du bist ja kein Fremder hier in der Gegend; weißt Du nicht, wo wir eigentlich sind?“

„Nein,“ versetzte Reinhold nach einem kurzen und raschen Umblick.

„Und Sie, Marchese Tortoni?“

Cesario zuckte die Achseln. „Ich bedaure, Ihnen gleichfalls keine Auskunft geben zu können. Ich komme wenig über die nähere Umgebung von Mirando hinaus, und überdies ist bei solchem Wetter eine Orientirung fast unmöglich.“

Das Letztere war allerdings wahr, Erde, Himmel und Meer schienen in wogendem Nebel ineinanderzufließen. Man sah kaum einige Hundert Schritte weit in die aufgeregte See und nicht viel weiter in das Land hinein. Kein Berg, keine Ortschaft war zu erblicken; eine dichte graue Dunsthülle hielt Alles gefangen, dennoch schien der Capitain den Einwand nicht gelten zu lassen.

„Unpraktische Künstlernaturen!“ murmelte er ärgerlich. „Da sitzen sie monatelang in ihrem Mirando und gerathen Tag für Tag in Ekstase über die unvergleichliche Schönheit ihres Golfs, aber die Küsten kennen sie nicht, und wenn sie einmal eine Meile abseits sind von der großen Touristenstraße, wissen sie sich nicht zurecht zu finden. Lord Elton, wollen Sie die Güte haben an meine Seite zu kommen? Ich glaube, wir Beide eignen uns noch am besten zu Pfadfindern.“

Lord Elton, der schon bei der ersten Begegnung außerordentliches Wohlgefallen an dem übermüthigen Wesen Hugo’s gefunden, und dem dieser heute vollends imponirt hatte, kam augenblicklich der Aufforderung nach. Mit derselben unverwüstlichen Gelassenheit, die er vorhin in der Gefahr gezeigt, stellte er sich jetzt an die Seite des Seemanns, und man schritt vorwärts, während die anderen beiden Herren mit Beatrice folgten.

„Mir scheint, der Zufall hat uns an eine ziemlich unwirthliche Küste geworfen,“ spottete Hugo, auf dessen Laune das Wetter nicht den geringsten Einfluß übte. „Meiner Berechnung nach müssen wir drei bis vier Stunden von S. entfernt sein, und da zur Linken schimmern durch den Nebel Berge mit sehr verdächtigen Schluchten. Gennaro’s Bande soll ja hier im Gebirge ihr Wesen treiben. Was meinen Sie, Mylord, wenn wir heute noch etwas von der echten Schauerromantik Italiens zu kosten bekämen?“

Der Lord wendete sich mit plötzlicher Lebhaftigkeit den bezeichneten Schluchten zu, die in dem wogenden Nebel allerdings unheimlich genug aussahen, und musterte sie aufmerksam.

Indeed, das wäre sehr interessant.“

„Vorausgesetzt, daß sich eine hübsche Brigantesse dabei befindet, sonst nicht,“ ergänzte Hugo.

„Gennaro’s Bande führt keine Frauen mit sich; ich habe mich genau darüber unterrichtet,“ sagte Jener wichtig.

„Schade! Die Bande scheint noch sehr uncivilisirt zu sein, da sie den billigen Wünschen ihrer geehrten Gäste so wenig Rechnung trägt. Uebrigens wäre das etwas für meinen Jonas. Ein Leben ohne Frauenzimmer! Wenn er das hört, wird er zum Ueberläufer und schwört zu Gennaro’s Fahne; ich werde ihn in Obhut nehmen müssen.“

„So scherzen Sie doch nicht so leichtsinnig!“ mischte sich der Marchese ein. „Bedenken Sie, Signor, wir haben eine Dame bei uns und sind sämmtlich unbewaffnet.“

„Bis auf Mylord, der den sechsläufigen Revolver immer als Taschenfeuerzeug bei sich trägt,“ sagte Hugo lachend. „Wir Anderen hielten es allerdings nicht für nöthig, in Waffen zu starren, als wir die harmlose Spazierfahrt unternahmen. Uebrigens haben wir heute einen wirksameren Schutz, als zwei Dutzend Carabinieri ihn uns gewähren könnten. In dem Regen wagt sich kein Brigant heraus.“

„Meinen Sie?“ fragte der Lord im Tone unverkennbarer Enttäuschung.

„Gewiß, Mylord! Und ich meinestheils halte es auch für besser, wenn die Vergnügungspartie in die Berge für diesmal unterbleibt. Ist es übrigens nicht wunderbar, daß wir Beide, die einzigen Nichtkünstler in der Gesellschaft, zugleich die Einzigen sind, die Verständniß für die Romantik der Situation haben? Mein Bruder,“ hier senkte Hugo die Stimme, „geht wie ein gereizter Löwe neben Signora Biancona her – er ist jetzt überhaupt immer in der Löwenstimmung, und man thut am besten, ihm so wenig wie möglich nahe zu kommen – Signora hat die tragische Verzweiflung auf der Bühne nie so vollendet zum Ausdruck gebracht, wie in diesen Minuten, und Marchese Cesario starrt elegisch in den Nebel, anstatt unseren höchst effectvollen Regenzug zu bewundern. Ah, da schimmert ja endlich etwas wie ein Gebäude hervor, und da kommt auch Jonas zurück von seiner Recognoscirung. Nun, was giebt es?“

„Eine Locanda!“ berichtete Jonas, der vorausgegangen war und jetzt eilig zurückkehrte. „Nun sind wir geborgen,“ setzte er triumphirend hinzu.

„Der Himmel hat Erbarmen,“ rief Hugo pathetisch, indem er sich umwandte, um den Uebrigen die willkommene Mittheilung zu machen. Die Aussicht auf ein nahes Obdach belebte in der That den schon sinkenden Muth der Gesellschaft; man verdoppelte die Schritte und befand sich bald darauf in der geschützten Vorhalle des bezeichneten Hauses.

„Der rauhen Seemannshülle ist heute ein beneidenswerthes Glück zu Theil geworden,“ sagte der Capitain, indem er in der verbindlichsten Art von der Welt seinen Regenmantel von den Schultern Signora Biancona’s nahm. „Ich wußte, daß wir sie heute noch brauchen würden, deshalb erlaubte ich mir, sie mitzunehmen. Der Mantel hat Sie doch vollkommen geschützt, Signora?“

Beatrice preßte hastig die Lippen zusammen, als sie mit einem erzwungenen Danke die schützende Hülle zurückgab. Es war ihr schwer genug geworden, sie gerade von der Hand des Capitains anzunehmen, indessen war er der Einzige, der sich im Besitze einer solchen befand, und ihr blieb keine andere Wahl, wollte sie nicht völlig durchnäßt werden. Aber wie alle leidenschaftlichen Naturen war sie dem Spott nicht gewachsen, und diese verhaßte Ritterlichkeit ihres Gegners erlaubte ihr nie, ihm entschieden feindselig gegenüber zu treten, und hielt sie unerbittlich fest in den Grenzen gesellschaftlichen Umgangs.

Die Locanda, die abseits von der großen Touristenstraße ziemlich einsam am Strande lag, gehörte nicht zu denen, welche von vornehmeren Gästen frequentirt wurden, und ließ an Reinlichkeit und Bequemlichkeit sehr viel zu wünschen übrig, aber das Wetter und ihr völlig durchweichter Zustand erlaubten den Gästen nicht, wählerisch zu sein. Gab es doch hier einige Räumlichkeiten, die wenigstens den Namen von Gastzimmern führten und auch wirklich bisweilen jungen Malern und umherstreifenden Touristen als Nachtquartier dienten. Beatrice entsetzte sich beim Eintritt, und der Marchese blickte mit stummer Resignation auf diese „Zimmer“, die denen seines Mirando allerdings sehr unähnlich waren, der Lord dagegen fand sich besser in das Unvermeidliche, und was die beiden Brüder betraf, so schien Reinhold gegen die Art der Aufnahme sehr gleichgültig und Hugo sehr amüsirt dadurch zu sein. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man auch, daß man in der That volle drei Stunden von S. entfernt war, und daß bereits eine Reisegesellschaft hier Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatte. Sie war aber glücklich noch beim Ausbruch desselben und zwar zu Wagen angekommen, hatte also nicht so vom Regen gelitten, wie die eben anlangenden Herrschaften, denen man bereitwillig mit Allem aushalf, was gerade zur Hand war.

Eine Viertelstunde später trat Hugo in das allgemeine Gast- und Empfangszimmer und schob sanftmüthig mit dem Fuße einen schwarzen borstigen Gegenstand bei Seite, der sich in bewundernswerther Ungenirtheit gerade vor die Thür gelagert hatte und jetzt ärgerlich grunzend den Platz räumte.

„Diese lieben Thierchen scheinen hier als salonfähig betrachtet zu werden; bei uns sind sie das höchstens in gebratenem Zustande,“ sagte er ruhig. „Ich wollte sehen, wo Du bleibst, Reinhold. Aber mein Gott, Du bist ja noch immer in dem nassen Anzuge, Warum hast Du Dich nicht umgekleidet?“

Reinhold, der am Fenster stand und auf das Meer hinausblickte, wandte sich um und warf einen zerstreuten Blick auf seinen Bruder, der bereits, wie die übrigen Herren, von den in aller Eile herbeigeschafften Sonntagskleidern des Padrone und seiner Söhne Gebrauch gemacht hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_524.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)