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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Sie sind im Irrthume, Signora. Ich nannte Ihnen ja den Namen der deutschen Dame.“

Der junge Italiener trat zu seinem Freunde und legte die Hand auf dessen Schulter.

„Signora’s Irrthum ist erklärlich. Meinen Sie nicht auch, Rinaldo? – Mein Gott, was haben Sie denn – was ist Ihnen?“

(Fortsetzung folgt.)




Die diesjährige Aachener Heiligthumsfahrt.


Eine beherzigenswerthe Culturstudie.


Vierzehn Tage hindurch, vom 10. bis zum 23. Juli, war Aachen der Tummelplatz der „Armen am Geiste“ aus Nähe und Ferne. Alldorten flatterten vom Kaiserdome herab die „Oberhüllen der Windeln des Herrn, so der heilige Joseph als Fußlappen getragen,“ das „Lendentuch Jesu, mit zahlreichen Spuren des h. h. Blutes,“ das Tuch, „auf welchem der h. Johannes der Täufer enthauptet und in welches sein Leichnam eingewickelt worden ist“ und – als Prachtstück dieser altisraelitischen Wäsche „das Kleid der allerseligsten Jungfrau und Gottesgebärerin Maria, welches sie trug, da sie den Weltheiland gebar.“ Wer an diesen vier sogenannten großen Reliquien, die der üblichen geistlichen Praxis zuwider ausnahmsweise gratis gezeigt werden, noch nicht genug hatte, dem bot sich gegen Erlegung von zehn Groschen Mammon, außerdem Gelegenheit, noch zwanzig weitere „kleine Heiligthümer“ im Innern des Domes besichtigen zu dürfen, unter welch letzteren uns ein „Fläschchen mit Oel, das aus den Gebeinen der h. Katharina geflossen,“ das „führnehmbste“, weil seltsamste däuchte. Für Heiligthumstiger übermenschlichen Grades aber, welche ihre innere Auferbauung durch diese Anschauungen noch nicht zum befriedigenden Abschluß gebracht glaubten, bot sich in

a) der Pfarrkirche zu St. Adalbert   mit   24   Heiligthümern
b) der Theresianer Kirche 9
c) der Peterskirche 1
d) der Paulus- vormaligen
Dominikanerkirche
2
e) in St. Foilan 1
f) in der Kreuzkirche 2
g) in der Stephanskirche 2

weitere fromme Speise. Außerdem hilft das benachbarte Burtscheid mit 22 und Cornelimünster mit 6 Heiligthümern aus. Summa Summarum 89 Heiligthümer, weiter aber giebt’s keine mehr. Und zu dieser Leistung der altkirchlichen Leinenschränke und Garderoben eilt das Volk aus Nähe und weiter Ferne her. Damit aber männiglich Gelegenheit werde, seine Opfer möglichst gut an den Mann zu bringen, hat das ehrwürdige Stiftscapitel einen zweckmäßigen Turnus in der Zulassung der Processionen aufgestellt. Wir setzen ihn her.

Heiligthumsfahrt.
Reihenfolge der Processionen nach den einzelnen Tagen.
10.   Juli:   St. Foilan, Decanat Köln und Lövenich.
11.     St. Peter, Decanat Bonn, Hersel, Königswinter und
  Erpel.
12.     St. Nicolaus, Decanat Düren, Derichsweiler,
  Aldenhoven und Nideggen.
13.     St. Paulus, Decanat Neuß und Grevenbroich.
14.     St. Jakob, Decanat Gladbach, Euskirchen, Rheinbach
  und Münstereifel.
15.     St. Adalbert und Congregation.
16.     St. Michael, Decanat Düsseldorf, Bergheim
  und Gemünd.
17.     Kreuzpfarre, Decanat Erkelenz, Malmedy, Montjoie,
  Eupen und St. Vith.
18.     Domschule, Decanat Eschweiler, Elberfeld, Solingen,
  Wipperführt und Essen.
19.     Gymnasium, Decanat Heinsberg, Wassenberg,
  Geilenkirchen und Mülheim.
20.     Barmherzige Schwestern mit den Invaliden und
  Waisenkindern, Decanat Burtscheid und Jülich.
21.     Die Realschule und die Provinzial-Gewerbeschule,[1]
  Decanat Crefeld, Kerpen, Lechenich und Brühl.
22.   Juli   Schwestern vom armen Kinde Jesu mit den Kindern
  und die Gesellenvereine.
23.     Die armen Schwestern vom heil. Franciscus und die
  übrigen Mitglieder des Franciscaner-Ordens, Decanat
  Siegburg, Uckerath, Blankenheim und Steinfeld.

Mit Schlag 1 Uhr wird die große Wolfsthür geöffnet; die Processionen ziehen dann ohne Unterbrechung bis Abends 8 Uhr. In einzelnen Fällen jedoch, wo es die Umstände räthlich scheinen lassen, behält sich das Capitel die besondere Anordnung vor.

Aachen, den 15. Mai 1874.
Das Stifts-Capitel:
Dr. Schlünkes, Propst. Dr. Kloth, senior.
Graf Dr. von Spee. Dr. Bock.
Rector Dr. Buschmann. Jansen. Dr. Kessel.

Diesen Processionen schließen sich weiter die herrenlosen Waller an, welche auf eigene Faust gekommen sind. Alltäglich aber, Vormittags zehn Uhr, ist, wie schon gesagt, Gratisvorstellung der vier großen Heiligthümer vom Domthurme aus. So weit das möglich ist, geben wir nachstehend ein Bild dieses traurigen Schauspiels. Von früh acht Uhr an beginnen die Straßen und Plätze in der Umgegend des Domes sich zu füllen, glücklicher situirte Menschenkinder besetzen gegen ein entsprechendes Entrée die von den Hauseigenthümern eigens für diese Tage abgesperrten Trottoirs, noch glücklichere die Fenster, welche nach dem Stockwerke ihrer Lage entsprechende Preise haben; die Dächer gar sind theilweise abgedeckt und zum Schutze gegen die Sonne zeltartig überspannt –

Es brechen fast des Hauses Stützen,
und Kopf an Kopf gedränget sitzen

die frommen Seelen und harren verhältnißmäßig geduldig anderthalb bis zwei Stunden der kommenden Dinge. Wir waren so glücklich, einen Balcon zu erlisten; seiner habhaft zu werden, mußten wir allerdings, obwohl er schon Tags vorher persönlich gemiethet war, uns schon Morgens acht Uhr aufmachen, um das Haus überhaupt noch erreichen zu können. Und da saßen wir nun.

Immer dichter wurden unter uns die Volksmassen, immer verworrener schwirrte das Gewirr der tausend und aber tausend Stimmen an unser Ohr; wohin auch das Auge sah, kein Ruhepunkt war zu erspähen, und unter uns begann der Kampf um’s Dasein, denn – nicht „Raum für Alle hatte die Erde“. Kreischende Weiber und Mädchen, fluchende Männer, weinende Kinder. Hier und dort der ohnmächtige Versuch des gewaltsamen Hervorbrechens Einzelner aus dem Menschenknäuel und in Folge dessen ein partielles Hin- und Herwogen der Menschenmassen. Und welche Typen boten sich dar! Die meisten Gesichter trugen das Gepräge des thierischen Stumpfsinnes, und hier haben wir Respect vor der Vogt’schen Affentheorie bekommen.

Gensdarmen waren bemüht, einen schmalen Pfad offen zu halten; dem Druck ihrer Pferde wich man mit Aufbietung aller Kraft schon aus, aber hinter ihnen schlugen die Menschenwogen sofort mit brandendem Getöse wieder zusammen. Halbohnmächtige Frauenzimmer wurden von mitleidigen Händen über die Bretterverschläge der Trottoirs in die Häuser gelootset, wobei die widerlichsten Scenen vorkamen, welchen der fromme Pöbel cynisch applaudirte. Und über diesem Chaos wimmerte „schwer und bang“ und in langsamem Tempo die große Domglocke. Bei all dem Gewoge, Geschwirre, Getöse fielen wir fast in magnetischen Schlaf.

Endlich zeigte sich Leben auf den Thurmumgängen; unter Musikbegleitung intonirte der Domchor eine Hymne. Welche? Daß überhaupt musicirt wurde, schlossen wir folgerichtig aus dem Glitzern der Instrumente, die an Köpfen hingen, und an dem

  1. Sind Realschule und Provinzial-Gewerbeschule zu Aachen wirklich als Schulen, also in corpore zu solchem Zauber geführt worden? und wenn, kann das ohne ernste Rüge geschehen? Bescheidene Anfrage an die k. Regierung zu Aachen, bez. das k. Provinzial-Schulcollegium zu Coblenz.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_528.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)