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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

nicht wie Blei.“ – Die Bauern, geehrt durch das Zutrauen, verloren sich in der Menge und suchten die Anwesenden nach Kräften zu überzeugen, daß sie wenigstens hinsichtlich des Geldes nicht getäuscht seien. Das machte einen gewaltigen Eindruck auf die Menge. Das wußte der pfiffige Quacksalber wohl, der dadurch, daß er Geld zeigen konnte, desto mehr gewann. Doch wollte er das an den Geberden der Bauern leicht zu erkennende Erstaunen und somit Zutrauen womöglich noch steigern.

„Um Euch zu zeigen,“ fuhr er fort, „daß ich Euch nicht um Euer Geld prellen, sondern der leidenden Menschheit zu Hülfe kommen und nur meine Reisekosten, die Wurzel und das Lebenswasser zu holen, zurück haben will, so biete ich Euch an, z. B. einem Jeden unter Euch einen kranken hohlen Zahn unentgeltlich herauszuziehen. Wer hat einen kranken Zahn, zwei, drei, vier solcher Zähne? Ich ziehe sie alle umsonst heraus. Es kostet auch nicht den rothen Sou.“

Eine allgemeine Stille und Nachdenklichkeit unter den Anwesenden folgte, eine Stille, die der Wunderdoctor durch einen die Menge noch mehr betäubenden Marsch der Musikanten bedecken hieß. Als der Tusch vorüber war, zeigte er auf einer Platte Hunderte von Zähnen aller Art, die er ausgerissen. Zuletzt öffnete er eine Büchse und ließ ein paar Zähne herausfallen; dieselben zeigend, sagte er: „Seht, das sind die bösartigsten aller Zähne. Der Teufel hat sie wachsen lassen neben ihren Cameraden. Aber was Keiner kann, ich habe sie herausgezogen, so schnell, daß der Patient nicht allein keinen Schmerz verspürte, sondern auch meinte, ich fange erst an, wenn ich den Zahn schon ausgezogen. Wer will jetzt kommen? Es kostet nichts. Meine Zeit ist kurz gemessen; ich muß so schnell als möglich nach Paris, um dort einem Prinzen einen schrecklichen Pufferzahn, den kein Doctor jener großen Stadt bewegen kann, herauszuiehen.“

Da näherte sich ein armer Schelm, der immerwährend an Zahnweh litt und kein Geld hatte, um sich helfen zu lassen, der Kutsche; er zog seine Kappe ab und blickte ehrfurchtsvoll zu dem Quacksalber hinauf. Er wurde von den hin- und herrollenden Augen des Doctors schnell bemerkt. Der Zitternde wurde in die Kutsche hinaufgezogen und zeigte seinen kranken Zahn. Der Schreier berührte ihn mit einer kleinen Zange, die man kaum in seiner Hand bemerkte, und – in einem Hui hatte er ihn heraus. „Mein Sechs!“ sagte der Patient, als er todtenbleich von der Kutsche herunter kam, „Der kann’s – besser als der Schmied, der Einem den Kopf zwischen die Beine nimmt und so lange zerrt, daß man am Ende froh ist, daß er mit dem Zahne nicht den halben Kiefer und das ganze Zahnfleisch mitnimmt. Juhe, Herr Doctor, was bin ich schuldig?“

Der Doctor blickte ihn lachend an und sagte: „Hm, Du siehst nicht groß danach aus, daß Du viel bezahlen kannst.“ In der Tasche wühlend, fügte er hinzu: „Hier, weil Du der Erste gewesen, der mir glaubte, nimm diesen Zwanziger und trinke auf meine und Deine Gesundheit.“

Das wirkte. Jetzt kam eine Menge Weiber, Männer und Jungen, die ihrer kranken Zähne entledigt sein wollten. Jeder hätte zuerst in der Kutsche sein mögen. Der Marktschreier, der in seinem phantastischen Anzuge, mit seinem schwarzen Schnurrbarte und glänzenden Kraushaare in der That die Menge magisch an sich fesselte, zog aber auch die Zähne mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und Geschicklichkeit heraus. Er hatte genug zu thun, so daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Auf einmal hielt er inne und rief einem auf dem Fußwege neben der Fahrstraße sitzenden fremden Manne, der gar übel jammerte, zu:

„Heda, guter Freund, was sitzt Ihr dort und jammert so sehr? Habt Ihr Zahnweh, so kommt her, es soll Euch schnell geholfen werden.“

Da klagte stöhnend der Mann: „Ihr mir helfen? Das kann kein Mensch. Ich habe schon zehn Doctor gebraucht und es wird immer ärger mit meinem Bauchgrimmen.“

„Ach, ich glaubte, Zahnweh hättet Ihr, weil Euch der Bart so wackelte. Also Ihr leidet an der Cholika. Das ist ein Spaß für mich, sie Euch auf der Stelle zu nehmen, wenn Ihr keinen Bandwurm oder keine Kröte habt, was nach Befund mehrere, bis zu sieben meiner Gläser, erfordert. Kommt nur her,“ sagte der Marktschreier vornehm einladend, holte ein Fläschchen hervor, öffnete es mit wichtiger Miene und gab dem Zögernden den Inhalt zu trinken mit den Worten: „Ich habe Euch etwas Stärkeres gegeben. Es wuß wirken auf die eine oder die andere Weise.“ Alles lachte über die Grimassen, die der Patient schnitt. Jedermann war aber begierig auf die Wirkung der Arznei. Kaum war sie genommen, so fing er zum allgemeinen Gelächter an noch gräßlichere Gesichter zu schneiden. Er winselte furchtbar und setzte sich voller Verzweiflung auf den Erdboden. Der Eindruck des Zahnausreißens, des Geldes war verwischt, der Ruhm des Doctors war dahin. Der Arme krümmte sich auf dem Boden. Auf einmal rief er verzweifelnd: „Ich muß sterben! Helft mir, Ihr guten Leute! O, ich muß sterben!“

Der Doctor sprang von der Kutsche herab und strich ihn mitleidig vom Magen bis zum Halse, und siehe, o Wunder! da entfuhr ihm aus dem Munde ein kleiner Frosch, den der Marktschreier mit der Hand aufzufangen schien – da noch einer, zwei, drei, vier!

Auf einmal wurde der Patient ruhig.

„Wie ist mir?“

„Was habt Ihr denn?“ riefen Alle.

„Was ich habe? Mir ist erdenwohl. Keine Spur mehr von Weh. O, Ihr Leute, ich weiß es selber nicht, wie es ’gangen ist. Aber ich spüre kein Weh mehr, ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser.“ So sprach er, noch selbst erstaunt scheinend, über seine Heilung.

Der Glaube der Menge war wieder zurückgekehrt im vollkommensten Maße, das merkte der Schreier gleich, und darum rief er mit seiner gewaltigen Baßstimme, welche den ganzen Tumult überhallte: „Da habt Ihr’s! Ich merke wohl, daß Ihr mir nicht glauben wollt. Jetzt geht heim, legt Euch in’s Bett und behaltet alle Eure Uebel, und ich will dafür sorgen, daß ich zu vernünftigern Menschen komme. Fort, Kutscher!“

Aber daraus wurde nichts. Fünf, zehn, dreißig Hände erhoben sich, von dem Elixir zu begehren. Der Zulauf wurde immer stärker. Kleine Fläschchen verkaufte der Wundermann zu einem, größere zu zwei und mehr Franken. Immer eilten neue Liebhaber herbei. Andere eilten heim, um vielleicht ihr letztes Geld zu holen. Manche ließen sich, weil sie sich schämten, aber nichtsdestoweniger daran glaubten, durch Andere von dem Heilwasser kaufen.

Während der Quacksalber aus der Kutsche heraus unablässig verkaufte, ging ein reizendes junges Mädchen unter der ferner stehenden Menge mit einem mit Fläschchen gefüllten Körbchen einher. Es war in leichte Tänzerinnentracht gekleidet, in weißem rothbordirtem Röckchen, hatte feine grüne Stiefelchen an, die mit rothen Fransen geziert waren, auf dem Kopfe einen kleinen italienischen Strohhut, von dem bunte Bänder herabhingen, und gehörte zur „Gesellschaft“ so gut wie der Fremdling, der Kranke, der durch die Kraft des Elixirs die Frösche gespieen und der am Abend mit dem „Doctor“, seinem Freunde oder Patrone, in dem benachbarten Flecken sich in einem der zahlreichen Gasthäuser bei Wein und Braten gütlich that.

In der Nacht ergänzte der Wunderdoctor seinen stark erschöpften Vorrath durch etwas in der Apotheke gekaufte Farbe und Wohlriechendes, das Uebrige fand er an den auf den öffentlichen Plätzen plätschernden Brunnen.

Zu den erfreulichen Gebräuchen im Elsaß gehört der, jedes Jahr zu Johanni in allen Dörfern auf den Anhöhen ein Feuer anzuzünden. Es ist ein Fest der Jugend, und um die gewaltige Flamme tanzen die jungen Leute, und zuletzt springt in einigen Dörfern Eins nach dem Andern durch die Flamme. In einigen Bergdörfern werden von Schindeln verfertigte runde Scheiben angezündet und flammend den Berg hinabgeschleudert; auch giebt es noch Höhen, welche von dem Gebrauche, feurige Scheiben abwärts zu werfen, „Schyweberge“ heißen, wie z. B. der südwestlich von Rothbach gelegene Berg, dessen vordere, gegen die Ebene gelegene Seite von einem an manchen Stellen noch mächtigen, aus Felsblöcken bestehenden Steinwalle umgeben ist.

Früher wurden die Johannisfeuer Sungihtfihr genannt, weil die Sonne an Johanni awe, wieder abwärts geht. Die Lieder, welche an diesem Feuer gesungen wurden, sind längst verhallt und nur wenige Spuren davon vorhanden. Wie überall haben auch hier unpoetische Menschen, besonders Schulmeister

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_577.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)