Seite:Die Gartenlaube (1874) 611.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

liegen sie halb im Schnee und halb im Schmutz vergraben, im Sommer aber hängt der einförmig blaue Himmel wie eine bleierne Decke darüber, und die Sonne sendet ihre sengenden Strahlen auf die weißgetünchten Holzwände der Häuser nieder. Und weißgetüncht ist in solchem Neste Alles, jede Wand, jeder Pfahl, jede Planke, ja selbst die Stämme der Bäume. In den schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen herrscht wenig Leben, und nur am Sonntage, wenn die unvermeidlichen vier oder sechs Kirchen, die auch die kleinste Stadt aufzuweisen hat, ihre Glocken ertönen lassen und die schläfrigen Bewohner schlaftrunken nach den Gotteshäusern gehen, um bei den Worten des Predigers nur noch schläfriger zu werden, sieht man Menschen in größerer Anzahl durch die Straßen wandeln. Fremde kommen nach diesen Orten nur bei besonderen Gelegenheiten und Ereignissen, da von Anziehungspunkten und Sehenswürdigkeiten dort keine Rede sein kann.

Solch eine besondere Gelegenheit mußte auch am 28. October 1873 für Westchester hereingebrochen sein, denn Hunderte von Fremden strömten am Morgen jenes Tages von allen Seiten und Richtungen in das Städtchen. Uebrigens schien dieses Ereigniß keinem der Ortsbewohner besonders aufzufallen, denn Jeder vermochte sich dasselbe zu erklären. Sollte doch an dem genannten Tage der Proceß gegen den berüchtigten William E. Udderzook begannen, welcher der Ermordung seines Schwagers Winfield Scott Goß angeklagt war, und wer die Geschichte dieses Verbrechens kannte, das vor wenigen Monaten so große Sensation in den östlichen Staaten der Union wachgerufen, verwunderte sich nicht über das zahlreiche Erscheinen der Fremden an dem Orte, in dessen Gerichtsgebäude der Mörder den Anfang seines Processes erwartete.

Bevor wir aber in das Gebäude treten, wo ein neuer Act in einem blutigen Drama beginnen soll, wird es Zeit, den Leser mit der Geschichte dieses Verbrechens bekannt zu machen.

An der York-Road, einer von Baltimore sich abzweigenden Landstraße, stand noch vor wenigen Jahren ein hölzernes Häuschen. Es sah recht unscheinbar und armselig aus, und selbst die äußere Erscheinung mehrerer nahe gelegenen Negerhütten stach noch vortheilhaft von der des Häuschens ab. In dem letzteren lebte ein Mann, Namens Winfield Scott Goß, der sich den Ruf eines Sonderlings erworben hatte. Er besaß eine junge, schöne Frau, die in einer der fashionablen Straßen Baltimores wohnte, und obgleich er diese häufig aufsuchte, so hielt er sich doch selten lange bei ihr auf. Während des größten Theiles seiner Zeit hockte er einsam in seiner baufälligen Hütte, ohne daß man eigentlich erfuhr, was er dort trieb und weshalb er sich von aller Welt zurückzog. Fragte man ihn, womit er sich beschäftige, so entgegnete er, daß er in seinem Laboratorium (anders nannte er seine Hütte nie) experimentire, um ein Substitut für „India Rubber“, auf welches er später ein Patent zu erlangen wünsche, herzustellen. Am Abende des 2. Februars 1872 brannte das Häuschen nieder, und kurz darauf fand man unter den Brandtrümmern die bis zur Unkenntlichkeit entstellten Ueberreste eines menschlichen Wesens. Da ausreichende Beweise vorlagen, daß Goß sich kurz vor dem Brande in dem Hause befunden, und zwei Männer, ein Deutscher, Namens Engel, und ein Schwager des angeblich Verunglückten, ein gewisser William E. Udderzook, aussagten, daß sie Goß kurz vor dem Brande verlassen, so nahm die bei der Leichenschau fungirende Jury keinen Anstand, den Wahrspruch abzugeben, daß Goß bei dem Brande um’s Leben gekommen sei.

Einige Tage lebte dieses Ereigniß im Munde der Baltimorer Bevölkerung fort, dann wurde es vergessen und der Name des Sonderlings nur im Kreise seiner Bekannten vielleicht dann und wann noch einmal erwähnt. Plötzlich aber ward die Aufmerksamkeit des Publicums auf’s Neue auf diesen Vorfall gelenkt, und derselbe gewann mit einem Male ein größeres Interesse. Nachdem nämlich mehrere Monate nach dem Feuer an der York-Road verstrichen waren, stellte sich heraus, daß Goß Policen zum Betrage von fünfundzwanzigtausend Dollars in vier Lebensversicherungs-Gesellschaften besaß. Als jedoch seine Gattin ihre Rechte geltend machte und den vollen Werth der Policen beanspruchte, verweigerten die Assecuranz-Compagnien die Zahlung und zwar auf den Grund hin, daß Betrug im Spiele sei. Die Compagnien stellten sogar die Behauptung auf, daß Goß noch lebe und in Gemeinschaft mit seinem Schwager Udderzook eine Leiche in dem Hause versteckt und dasselbe angezündet habe, während Alexander Campbell Goß, ein Bruder des angeblich Verbrannten, den Letzteren mit einem in der Nachbarschaft bereit gehaltenen Fuhrwerk in Sicherheit gebracht habe.

Im Mai 1873 wurde Frau Goß vor dem Bundesbezirksgerichte in Baltimore klagbar, um die Assecuranzsumme zu bekommen. Die vorgeblichen Ueberreste von Goß wurden nochmals ärztlich geprüft, aber die Leiche war dermaßen entstellt, daß von einer Identfication keine Rede sein konnte. Nur die Zähne waren noch erhalten; diese aber sahen sehr schlecht aus und stimmten durchaus nicht mit dem prächtigen Gebisse überein, welches Jeder, der den sonderbaren Menschen gekannt, an demselben bewundert hatte.

Auf diesen Umstand stützte sich hauptsächlich die Vertheidigung, unterließ es aber, Frau Goß mit irgend einer Absicht des Betruges in Verbindung zu bringen. Ihr Betragen bei der ersten Besichtigung der Leiche, kurz nach dem Brande, war geeignet, jeden Verdacht von ihr abzulenken; sie hatte sich damals auf die entseelten Ueberreste geworfen und ihren Schmerz in einer Weise geäußert, die nach dem Urtheile aller Augenzeugen jeder Verstellung fremd war. Und doch mußte jeder Unbefangene sich die Frage stellen, was Goß und seine Complicen dabei gewinnen konnten, wenn Frau Goß nicht zu dem Complot gehörte. Das Ende des Processes war übrigens, daß das Gericht einen Urtheilsspruch zu Gunsten der Frau Goß abgab. Die Assecuranz-Compagnien beantragten einen neuen Proceß und blieben inzwischen im Besitze des Geldes.

Am 11. Juli desselben Jahres wurden in einem einsamen Gehölze zwischen Cochranville und Penningtonville, zwei kleinen Orten in Chester-County, Pennsylvanien, die schrecklich verstümmelten Ueberreste eines Mannes gefunden und zwar auf eine seltsame Weise. Ein Farmer fuhr auf dem Newporter Landwege von seiner Farm nach Cochranville, und als er an dem erwähnten Gehölze vorbeikam, wurde seine Aufmerksamkeit durch mehrere Bussarde und Aasgeier erregt, die über einem gewissen Punkte des Waldes hin- und herflogen. Als er von Cochranville zurückkehrte, sah er die Vögel noch über derselben Stelle schweben. Er verließ sein Fuhrwerk, ging in das Gehölz und fand den Leichnam. Die Arme und Beine waren von dem Rumpfe getrennt und das Gesicht so entstellt, daß es kaum zu erkennen war. Der Mörder, dessen Opfer auf diese Weise gefunden wurde, mußte ein besonderes Interesse daran gehabt haben, das prächtige, weiße Gebiß des Leichnams zu zerstören, denn mehrere Zähne waren aus den Kiefern gebrochen, und zwar konnte dies erst geschehen sein, nachdem der Unglückliche bereits sein Leben ausgehaucht.

Man stellte Nachforschungen an, wer der Todte sei, woher er gekommen und von wessen Händen er gefallen. Diese Nachforschungen brachten folgende Thatsachen an’s Licht. Am 30. Juni kamen zwei Männer nach Jennerville in Pennsylvanien und übernachteten in dem dortigen Hôtel. Der Eine dieser Beiden war Udderzook, der Andere angeblich ein reisender Agent aus Kentucky oder Tennessee. Der Letztere machte den Eindruck eines höchst sonderbaren Menschen; scheu wich er jeder Begegnung mit anderen Personen aus, fortwährend schien er sich in gedrückter Stimmung zu befinden. Am seltsamsten aber war sein Benehmen gegenüber seinem Begleiter. Wenn er denselben anschaute, so konnte man kaum sagen, ob der Blick Vertrauen oder Furcht ausdrückte. Vielleicht war es ein Gemisch von beidem, was in diesen Blicken lag. Am Morgen nach der Ankunft in Jennerville begab Udderzook sich nach Penningtonville und miethete daselbst ein Gefährt, mit dem er Nachmittags nach dem ersteren Orte zurückkehrte. Abends zwischen sechs und sieben Uhr stieg er mit dem Agenten in das kleine Fuhrwerk und verließ das Hôtel. Gegen Mitternacht langte er wieder in Penningtonville an und lieferte das Gefährt ab. Er saß zu dieser Zeit allein in dem Wagen, welcher Spuren rücksichtslosen Gebrauches aufwies. Das Wachstuch des Fußbodens war zerrissen; an den Sitzen befanden sich große Blutflecken, und zwei Decken, die der Wagenverleiher ihm am Nachmittage mitgegeben, fehlten gänzlich. Kaum waren diese Thatsachen bekannt geworden, als sich der Verdacht des Mordes auf Udderzook richtete und man zu dessen Verhaftung schritt. Er wurde in Baltimore, wo er mit seiner Frau und

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_611.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)