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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

seinen Kindern wohnte, festgenommen und nach Westchester, dem Hauptorte des Countys, in dem der Mord begangen wurde, gebracht und im dortigen Gefängnisse eingekerkert. Mittlerweile wurde über den aufgefundenen Todten eine Leichenschau abgehalten, und die Untersuchung stellte fest, daß der Ermordete kein reisender Agent, sondern der angeblich bei dem Brande an der York-Road um’s Leben gekommene Winfield Scott Goß war.

Kehren wir jetzt nach Westchester zurück und folgen den Fremden, die soeben den Weg nach dem Gerichtsgebäude eingeschlagen haben. Unter diesen sind besonders die Agenten der bei diesem Processe in so hohem Grade interessirten Versicherungsgesellschaften vertreten, aber auch die Berichterstatter der New-Yorker, Philadelphier und Baltimorer Zeitungen hatten sich in bedeutender Anzahl eingefunden. War doch dieser Proceß mit seinen dunklen Geheimnissen ein prächtiges Thema für die Blätter, die ihre Spalten so gern mit jenen Sensationsberichten füllen, welche von der Masse des Volks mit wahrem Heißhunger verschlungen werden.

Endlich sind wir in den Gerichtssaal eingetreten. Der für die Zuhörer bestimmte Raum ist bereits bis auf den letzten Platz gefüllt, aber wir wissen uns durch die Menge hindurchzudrängen und nehmen Platz an dem für die Berichterstatter der Presse reservirten Tische. Oberrichter Butler hat seinen Sitz auf der Richterbank bereits eingenommen, während der Bezirksanwalt Wanger und Herr Wm. Hayne, welche die Anklagebehörde vertreten, sowie die Herren W. Mac Veagh und J. Perdue, die Vertheidiger des Angeklagten, in einem leisen Gespräche begriffen sind, von dessen Inhalte kein Wort an unser Ohr dringt. Präcise zehn Uhr öffnet sich eine kleine Thür, die unseren Blicken bis dahin entgangen, und William E. Udderzook, der Angeklagte, tritt aus derselben heraus und wird von dem Sheriff nach der Anklagebank geführt. Es ist ein großer, starkgebauter Mann mit gesunder Gesichtsfarbe, scharf markirten Zügen, dunkelrothem Haar, kleinen grauen, etwas zurückstehenden Augen, langer Nase, großem Munde, hoher Stirn und langem Schnurr- und Kinnbarte von röthlicher Farbe.

Kaum hat Udderzook sich auf die Anklagebank niedergelassen, als sich allmählich eine seltsame Gruppe um ihn bildet. Eine alte schwächliche Frau kommt dahergewankt, wirft einen nicht zu beschreibenden Blick auf das Gesicht des Angeklagten und setzt sich darauf zu demselben. Es ist seine Mutter, die laut erklärt, sie will bis zum letzten Augenblicke bei ihrem Sohne ausharren. Jetzt naht sich dem Angeklagten eine zweite Gestalt, seine Gattin; diese trägt ein acht Monate altes Kind auf dem Arme und führt ihr Erstgeborenes, ein kleines Mädchen, an der Hand. In ihrem Gesichte malt sich der Ausdruck der schrecklichsten und folterndsten Angst um das Schicksal dessen, dem sie einst angetraut wurde. Während das kleine Mädchen auf das Knie des Vaters klettert, tritt eine dritte Person in dessen Nähe; es ist seine und auch zugleich die Schwiegermutter des Opfers, die Mutter seiner Frau und die Mutter jener leidend, aber dadurch nur noch um so interessanter aussehenden Dame, die soeben eingetreten und in einiger Entfernung von der obigen Gruppe Platz genommen, diese zuletzt Angekommene ist keine Andere als Frau Goß, die Wittwe des Ermordeten. Sie hat die Reise von Baltimore nach Westchester angetreten, um als Entlastungszeugin für Udderzook zu erscheinen.

Nachdem die Jury eingeschworen worden und die Anwälte ihre Eröffnungsansprachen gehalten, begann das Zeugenverhör, welches neun Tage währte und die seltsamsten Enthüllungen ergab. In den wenigen Monaten, die zwischen der Festnahme Udderzook’s und dem Beginne des Processes lagen, waren die Versicherungsagenten ununterbrochen thätig gewesen, um die Spur aufzufinden, welcher Goß nach dem Brande seines Hauses an der York-Road gefolgt war und die ihn endlich nach dem einsamen Gehölze geführt, wo er unter den Händen eines Mörders sein Leben endete. Es war ihnen auch gelungen, diese Spur aufzufinden, und aus den Aussagen der von den Agenten aufgesuchten und nach Westchester gebrachten Zeugen erhellte Folgendes.

Winfield Scott Goß und Udderzook hatten schon lange Zeit die Absicht gehegt, in den Besitz der Summen zu gelangen, für welche das Leben des Ersteren versichert war. Um dieses zu bewerkstelligen, verschaffte Udderzook sich in einem New-Yorker Spitale einen Leichnam und ließ denselben, in einer Kiste verpackt, nach Baltimore kommen, wo er ihn nach dem sogenannten Laboratorium brachte. Dieser Leichnam mußte Goß’ Stelle vertreten und wurde unter den Brandtrümmern gefunden, während Goß, sobald die ersten Flammen aus dem Dache des Hauses emporstiegen, sich auf und davon machte und mit dem nächsten Bahnzuge von Baltimore nach Wilmington in Delaware fuhr. Dort hielt er sich mehrere Tage auf und nahm den Namen A. C. Wilson an. Später empfing sein Bruder Alexander Campbell Goß einen Brief von ihm, welcher in Saratoga im Staate New-York geschrieben war. Von Saratoga wandte sich Goß nach Canada und von dort über Michigan nach Memphis in Tennessee; alsdann reiste er über Baltimore nach Cooperstown in Pennsylvanien. Auf seiner Durchreise durch Baltimore war er kühn genug, in einem dortigen Hôtel abzusteigen und seinen Namen als A. C. Wilson im Fremdenbuche einzutragen.

Während dieser Irrfahrten stand er, wie mehrere aufgefundene Briefe nachweisen, mit seinem Bruder und Udderzook in fortwährendem Briefwechsel. Die Letzteren mußten ihm die Gelder liefern, welche er zu seinen Reisen und für seinen Lebensunterhalt brauchte. Schickten sie ihm nicht genügende Summen, so drohte er, das ganze Netz ihrer Pläne zu zerstören, und die beiden Verschworenen in Baltimore hatten wohl Ursache zu fürchten, daß er seine Drohung wahr machen werde, denn Beide wußten recht gut, daß er nicht zu den Männern gehörte, auf die man unter allen Umständen bauen kann. In Cooperstown, einem kleinen stillen Orte, der so recht als Versteck für Jemanden geeignet war, welcher die Augen der Welt zu meiden hatte, hielt Goß sich mehrere Monate auf und begab sich im November desselben Jahres nach Newark in New-Jersey, wo er bis zum Juni 1873 verblieb. Dann suchte er Jennerville auf, traf dort mit Udderzook zusammen und fand in des Letzteren Händen seinen Tod.

Diese und viele andere seltsame Enthüllungen förderte das Zeugenverhör zu Tage, und als dasselbe sein Ende erreicht, war Jeder überzeugt, daß Udderzook für diese Welt verloren sei. Freilich machte der Vertheidiger, Herr Mac Veagh, in seinem Schlußplaidoyer noch gewaltige Anstrengungen, seinen Clienten zu retten, und seine Worte blieben auch nicht ohne Eindruck auf die Geschworenen. Er verwies die Jury auf Diejenigen, welche dem Angeklagten als Gegner gegenüber ständen. Derselbe habe mit reichen Corporationen, einer Presse, die ihre Spalten mit Sensationsgeschichten zu füllen wünsche, und einem vom Vorurtheil befangenen Publicum zu kämpfen. Höchst ungerecht und tadelnswerth sei namentlich das Verfahren der Lebensversicherungsgesellschaften. Durch ein derartiges Handeln reicher Corporationen gewinne der Tod nur einen neuen Schrecken, indem Jeder die Befürchtung hegen müsse, daß seine Familie nach seinem Ableben den größten Entbehrungen ausgesetzt sei, falls es einer Compagnie belieben sollte, die Auszahlung des Geldes zu verweigern. Verstand Herr Mac Veagh aber auch für den Augenblick einen tiefen Eindruck auf die Geschworenen zu machen und in den Herzen dieser Männer ein Gefühl für Udderzook wachzurufen, so schwand dieses Gefühl doch bald, nachdem sich die Jury zur Berathung zurückgezogen und sich überzeugt hatte, daß die Beweise von der Schuld Udderzook’s klar und unumstößlich seien. Trotzdem hielten sich die Geschworenen drei volle Tage in ihrem Berathungszimmer auf, bevor sie dem Oberrichter die Anzeige machten, daß sie sich geeinigt. Der Gerichtshof wurde sofort zusammenberufen und der Angeklagte in den Saal geführt. Wenige Minuten später traten die Mitglieder der Jury ein und gaben ihren Wahrspruch ab. Derselbe lautete: Schuldig des Mordes im ersten Grade.

Udderzook bekundete, als ihm diese Worte zu Ohren drangen, nicht die geringste Erregung; er starrte nur, ohne mit den Augen zu zucken auf die Geschworenen, als diese der Reihe nach den Wahrspruch bejahten. So ruhig war er auch während des ganzen Processes geblieben. Sein Verhalten war das eines Mannes, welcher versteht, seine Gefühle zu verbergen und sich in einer Weise zu beherrschen, die Nichts von dem verräth, was im Innern vorgeht. Nur solch ein Mann war im Stande, seinen Freund, Gefährten, Schwager und Mitwisser zu ermorden und den Leichnam mit kaltem Blute in die Erde zu verscharren. Keine Muskel zuckte in dem Antlitz des Mörders, als ein Zeuge nach dem andern auf dem Zeugenstand erschien und neue überwältigende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_612.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)