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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Wer ist denn das Mädchen?“ fragte der Landarzt Reinhard, indem er den Deckel seiner großen, runden Dose drehte und quieken ließ, sie dann öffnete und einem Bauern, einer großen, markigen Gestalt mit hagerem Antlitz, anbot. „Kennst Du sie, Hofbauer? Du bist ja Vorsteher und also eine lebendige Tabelle von Allem, was lebt und stirbt um den ganzen See herum.“

„Dasselbige just nit,“ erwiderte der Hofbauer geschmeichelt, indem er zugleich die Finger spitzte, um die angebotene Prise nach Gebühr zu erfassen. „Aber ich bin halt schon ein alter Kampel, und wer so lang mitlauft wie ich, der lernt die Leut’ wohl kennen. Die Dirn’ aber kenn’ ich freilich; das ist ja die Rohnberger Corona.“

„Rohnberger – vom reichen Rohnberger drüben über’m See?“ fragte der Chirurg.

„Ja, das wär’ ihr wohl recht, glaub’ ich,“ lachte der Hofbauer entgegen, „aber sie hat nur den gleichen Namen und ist bloß weitschichtig mit ihm befreundet; sie ist blutarm, muß dienen und wird jetzt wohl auf einer Alm als Sennerin sein. Wenn sie aber auch arm ist wie ein Feldmäus’l, ist sie doch so hochgeistig wie die reichste Bauerntochter, und deretwegen, und weil sie von den Burschen nichts wissen will und sie abschnalzt, daß es nur so kracht, und wegen ihrem G’sang, haben sie ihr den Spitznamen ’geben – man kennt sie überall nur als das Rohnberger Spötterl.“

„Spötterl – ah! Es ist gewiß der Vogel damit gemeint,“ sagte der Landarzt, indem er wieder die Dose spielen ließ und sich besann. „Wie heißt er doch in der Naturgeschichte? Turdus … turdus …

„Den Namen weiß ich auch nicht, aber den Vogel kenne ich wohl,“ erwiderte der Pfarrer Heimgreiter, ein freundlicher, gelehrt aussehender Mann; „es ist eine Drosselgattung, die hier in der Gegend häufig vorkommt; ich habe selbst längere Zeit einen im Käfig gehalten und mich an seiner Lustigkeit und seinem Gesang ergötzt. Er hat nicht nur einen eigenen, recht hübschen Schlag, sondern weiß auch den Gesang vieler anderen Vögel und jeden Laut nachzuahmen, den er oft hört. Der meinige zum Beispiel verstand es prächtig, das Aechzen des Ziehbrunnens im Pfarrhause, der etwas schwer ging, nachzuahmen, so daß meine Schwester ein paar Mal hinauslief, weil sie glaubte, es seien Buben, die sich am Brunnen zu schaffen machten. Im Freien nistet er ganz versteckt, am liebsten in den Gabelzweigen der höchsten Birken, und auch da verkleidet er das Nest noch mit der weißen Birkenrinde, so daß man es von Stamm und Ast gar nicht unterscheiden kann.“

„Aber Sie haben da eine schöne Dose, Herr Landarzt,“ unterbrach ihn der Sonnen-Moser, indem er ebenfalls eine Prise nahm. „Was ist denn da für ein schönes Gemäld’ darauf?“

„Die Dose ist nicht übel,“ sagte der Landarzt wohlgefällig; „mit der Zeit kann sie sogar einmal einen großen Werth bekommen. Unter dem Glasdeckel ist das Kloster Tegernsee gemalt, wie es vor der Aufhebung aussah. Es wird bald eine Zeit kommen, in der sich Niemand mehr darauf besinnen kann, wie es damals hier ausgesehen hat. – Damals,“ fuhr er fort, während die Dose in den Händen der Bewundernden kreiste, „damals war das Kloster viel größer, hatte andere Thürme, und da, wo wir jetzt stehen, und der kleine Garten angelegt wurde, stand noch ein großes Viereck des Klosters mit einem weiten Hofe.“

„Das sind betrübte Zeiten gewesen,“ sagte der Sonnen-Moser. „Ich denk’s noch wie gestern. Wir haben gemeint, es wird Matthäi am Letzten sein mit Tegernsee, wie die geistlichen Herren fortgezogen sind, und Alles verkauft worden ist, und jetzt ist’s doch noch so gut ’worden, und seit der König das Kloster gekauft hat, ist’s noch viel besser als früher. Dafür haben wir den König auch alle gern, und Jeder ginge für ihn durch’s Feuer.“

„Es muß mit dieser Liebe doch nicht so weit her sein,“ sagte näher tretend ein älterer Mann in hechtgrauem Ueberrocke mit grünem Kragen, worauf goldnes Eichenlaub gestickt war; „Ihr würdet sonst dem guten Herrn nicht so viel Aerger machen.“

Dieses Wort, von dem Ankömmling mit der Art, aber auch dem Nachdruck eines eingebildeten Mannes gesprochen, fiel unter die Bauern wie ein Funken unter gestreutes Pulver, daß nach allen Seiten Staunen, Widerspruch und Unwillen aufzusprühen begann.

„Was? Wir machen dem König Verdruß? Wir thäten ihn ja lieber auf der Hand tragen,“ rief es von allen Seiten. „Wie kann uns der Herr Forstmeister so was nachreden?“

„Nun, wenn es nicht durch Euch selbst geschieht,“ erwiderte dieser begütigend, „so thut Ihr aber auch nichts, um ihm den Verdruß fernzuhalten. Wie lange ist es nun schon, daß der unbekannte Wildschütz in der Gegend sein Wesen treibt! Wie oft hab’ ich Euch nicht gebeten, Ihr solltet mir helfen, ihm auf die Spur zu kommen, und jetzt – nach mehr als drei Monaten – wissen wir so wenig wie vorher.“

„Ja so, Sie meinen den Gamstod, Herr Forstmeister,“ sagte der Sonnen-Moser kopfschüttelnd. „Ja, da können wir nix dafür. Wenn den Ihre Jäger und Schützen nit erwischen, wie sollten wir Bauern dazu kommen?“

„Umgekehrt,“ entgegnete der Forstmeister; „gerade Ihr habt die beste Gelegenheit, dahinter zu kommen, wer dieser Raubschütz ist, und wo er sich aufhält. Alle Anzeichen sind dafür, daß er selber ein Bauer ist. Würdet Ihr Eure Leute gehörig beaufsichtigen und nicht durch die Finger sehen, müßte es längst herausgebracht worden sein, wer der Gamstod ist.“

„Also ist wirklich etwas Wahres an der Sache?“ fragte der Landarzt. „Ich habe bisher immer geglaubt, es sei nur so ein Gerede unterm Volke; dem ist nicht wohl, wenn es sich nicht eine Geschichte zu erzählen hat.“

„Leider ist es wahr,“ sagte der Forstmeister. „Seit ein paar Monaten ist in den Bergen der ganzen Reviere das Dasein und die Thätigkeit eines Wildschützen zu spüren, den sowohl seine außerordentliche Keckheit wie die Sicherheit seines Schusses zu einer außergewöhnlichen Erscheinung macht. Er treibt sein Wesen hauptsächlich bei Nacht und in den wildesten, unzugänglichsten Steigen, wo kaum meine Gehülfen fortzukommen wissen. Schon mehrmals sind sie seiner ansichtig geworden; schon öfters glaubten sie, ihn umgangen und eingekreist zu haben – immer wußte er aber wieder zu entwischen, wenn er auch manchmal die Beute zurücklassen mußte. Und was noch das Merkwürdigste ist, die Hirsche oder Gemsen sind immer waidgerecht und meist auf das Blatt geschossen, als wenn er sie immer im Ansprunge abfinge, und die Kugeln, mit denen er schießt, sind nicht, wie gewöhnlich, von Blei, sondern es sind Zinnkugeln von außerordentlicher Kleinheit und Festigkeit.“

„Aha! Dann können wir den Raubschützen mit der Hand erlangen,“ sagte der alte Sonnen-Moser lachend, indem er auf einen beleibten Mann deutete, der bisher aufmerksam, aber schweigend zugehört hatte. „Dann ist’s Niemand Anderer als der Schandl, der Bäcker. Leugn’s nit!“ fuhr er fort, als der Andere entrüstet auffuhr. „Hast Du nicht selbig’s Mal, wie’s geheißen hat, daß sich oben hinter Deinem Hause in der Neureut ein Bär hat spüren lassen, in der Eil’ gleich den Zinnknopf von Deinem Krügl heruntergedreht? Du kannst es also nit leugnen, daß Du Dich auf Zinnkugeln verstehst.“

Der dicke Bäcker wollte zornig antworten; aber ehe er dazu kam, nahm der Forstmeister wieder das Wort. „Die Sache ist mir sehr ärgerlich,“ sagte er. „Nächstens werde ich aus den benachbarten Revieren und der ganzen Gegend Alles aufbieten, was gehen und ein Gewehr tragen kann; dann werden wir doch wohl die Spur finden und dem Gamstod das Handwerk legen. Ich habe nie einen solchen Aerger gehabt wie heute. Ihr Alle kennt doch den Standhirsch in dem Holze oberhalb des Westerhofes? Ein starkes Thier, ein prächtiger Sechszehnender!“

„Wer soll den nicht kennen!“ riefen die Bauern durcheinander. „Ist ja so zahm, daß er an Winter in die Häuser kommt und Einem schier aus der Hand frißt.“

„Ja wohl,“ sagte ein Anderer, „und ist der Lieblingshirsch vom Könige, der bei Leib und Leben verboten hat, daß ihm Jemand was zu Leide thut.“

„Der nämliche,“ sagte der Förster noch ärgerlicher. „Er muß sich in letzter Nacht zu weit verzogen haben. Drinnen, wo es nach Kreuth hineingeht, hat ihn heute Abend mein Jagdgehülfe gefunden – verendet. Der Gamstod scheint nicht Zeit gehabt zu haben, ihn zu verschleppen; aber die kleine Zinnkugel hat er richtig mitten auf dem Blatte sitzen gehabt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_637.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)