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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Wir wollen es hoffen,“ sagte Reinhold ernst. „Der zweite Brief ist von Hugo und aus S. datirt.“

Ein leichtes Erröthen flog über das Antlitz der jungen Frau, als sie in lebhafter Spannung fragte:

Nun? Kommt er endlich? Dürfen wir ihn erwarten?“

Reinhold schüttelte leise den Kopf. „Nein, Ella. Unser Hugo kommt nicht; wir müssen auch diesmal darauf verzichten, ihn wiederzusehen Hier, lies selbst!“

Er reichte ihr den ziemlich umfangreichen Brief. Die ersten Seiten enthielten nur Reiseschilderungen, die ganz in der kecken, von Uebermuth und Laune sprühenden Art des Capitains hingeworfen waren; erst ganz am Schlusse wurden die persönlichen Verhältnisse berührt.

„Ich habe meinen Aufenthalt in S. benutzt,“ schrieb Hugo, „um dem Jonas einen Besuch abzustatten, der sich nun schon seit Jahr und Tag mit seiner Annunziata hier niedergelassen hat. Ihr habt die Kleine so überreich ausgestattet, daß aus der bescheidenen Wirthschaft, die sie sich einrichten wollten, ein recht hübscher Gasthof geworden ist, mit dem es auch schon tüchtig vorwärts geht. Die junge Frau hat endlich Deutsch gelernt und ist überhaupt eine ganz allerliebste Wirthin, den Jonas aber habe ich mir ernstlich vornehmen müssen, denn es ist förmlich haarsträubend, wie das winzige Ding, die Annunziata, diesen Bären von einem Seemanne nach allen Regeln der Kunst commandirt. Ich habe ihm in das Gewissen geredet, ihn an seine Manneswürde erinnert, ihm prophezeit, daß er rettungslos unter den Pantoffel gerathen würde, wenn das so fortginge – was giebt mir der Mensch zur Antwort? ‚Ja, Herr Capitain, man ist aber doch so unmenschlich glücklich dabei!‘ Da blieb denn freilich nichts übrig, als ihn seinem unmenschlichen Glücke und seinem Pantoffelregimente zu überlassen.

Noch eine Nachricht habe ich für Dich und auch für Ella. Mir gerieth gestern zufällig eine italienische Zeitung in die Hand, in der ich der Notiz begegnete, daß eine Verschwägerung der Häuser Tortoni und Orvieto bevorstehe. Marchese Cesario werde sich in Kurzem mit der einzigen Tochter des Principe vermählen. Du siehst, auch ein Idealist stirbt heutzutage nicht mehr an unglücklicher Liebe; er tröstet sich statt dessen nach Jahr und Tag mit einer jungen und vermuthlich auch schönen Frau aus fürstlichem Geblüte. Nur der Leichtsinnige, der ‚Abenteurer‘ kann es noch immer nicht verwinden, daß er zu tief in ein Paar blaue Augen geblickt hat. Ich kann nicht kommen, Reinhold, noch nicht! Du kennst das Wort, das ich Deiner Frau gab, es verbannt mich noch immer von Eurer Schwelle. Der Himmel weiß es, wie lange ich mich noch auf dem Meere herumtreiben muß, ohne Euch wiederzusehen, aber wenn mir die Erinnerung auch nicht mehr das Herz abdrückt, wie im Anfange, loslassen will sie mich noch immer nicht. Meine ‚Ellida‘ liegt wieder einmal segelfertig im Hafen, und morgen fliegt sie mit ihrem Capitain wieder hinaus in’s Weite – also leb’ wohl, Reinhold! Küsse Deinen Knaben in meinem Namen! An Ella werde ich doch wohl einen Gruß senden dürfen, da Du ihn ihr bringst? – Vielleicht sehen wir uns wieder.“

Ella faltete den Brief zusammen und legte ihn schweigend nieder. „Ich hoffte doch, er würde wenigstens diesmal zu uns zurückkehren,“ sagte sie endlich – es bebte wie Wehmuth in ihrer Stimme.

„Ich habe es nicht erwartet,“ entgegnete Reinhold ernst, „denn ich kenne Hugo. An seinem Charakter scheint vieles so leicht und spurlos abzugleiten, und gleitet vielleicht auch wirklich ab, hat er aber einmal etwas mit voller Seele erfaßt, dann läßt er es auch für das ganze Leben nicht wieder los. Er bewahrt seine Liebe treuer und besser, als – ich es that.“

„Liebtest Du mich denn, als ich Dir angetraut wurde?“ fragte Ella mit sanftem Vorwurf. „Konntest Du die Frau lieben, die damals Dich und sich selbst noch nicht verstand? Wir mußten erst getrennt werden, um uns so voll, so ganz wiederzufinden, und mich würde nichts mehr an die Trennung erinnern, sähe ich nicht auf Deiner Stirn immer wieder den Schatten, den die eine Erinnerung wach ruft.“

Reinhold fuhr mit der Hand über die Stirn. „Du meinst den Tod Beatricens? Ich weiß es ja, daß sie sich mit eigener Hand ihr Schicksal bereitete, und doch kann ich nicht immer die Stimme zum Schweigen bringen, die mich der Mitschuld daran zeiht. Daß ich sie verließ, das trieb sie zur Verzweiflung, zum Wahnsinn; sie wollte uns vernichtend treffen und traf sich selber.“

„Und aus den Wellen, die ihr den Tod gaben, rettetest Du Dir und mir das Höchste, unser Kind und unsere Liebe,“ sagte die junge Frau leise. „Sieh, da kommt unser Reinhold. Willst Du auch dem Kinde diese schwer umdüsterte Stirn zeigen?“

Der kleine Reinhold steckte den Kopf zur Thür herein, und als er die Eltern im Zimmer sah, kam er vollends hereingesprungen, so rosig und frisch, so voll Leben und Uebermuth, daß die Düsterheit des Vaters und der Ernst der Mutter nicht Stand halten wollten vor seinem Schmeicheln und Tollen. Ella küßte zärtlich die Stirn ihres Knaben, während Reinhold sie und das Kind an sich zog. Sie hatten ihn doch unlösbar festgehalten, diese Fesseln, die er einst in jugendlicher Verblendung gesprengt und zerrissen hatte, bis er draußen in dem so heißersehnten Leben, unter all den erträumten Schätzen fühlen lernte, daß er doch das Beste daheim gelassen, bis die Sehnsucht nach der Vergangenheit erwachte, und sich mächtig und unwiderstehlich Bahn brach, bis er sich durch Schuld und Todesgrauen das zurückerkämpfen mußte, was er einst selbst von sich gestoßen hatte, sein Weib und sein Kind – und in dem Blicke, mit dem er jetzt auf die Beiden niedersah, stand deutlich und klar das Geständniß, welches die Lippen nicht aussprachen, daß er das so lang’ und ruhelos gesuchte und immer versagte Glück endlich hier gefunden.




Jakobine Maurer, die deutsche „Christusin“ in Brasilien.


Man hat sich gewöhnt, unser Jahrhundert das aufgeklärte zu nennen; aber so enorm die Fortschritte der Wissenschaft auch gewesen sein mögen, und so gerechtfertigt im Allgemeinen diese Bezeichnung sein mag, so treten uns doch in unsern Tagen Erscheinungen entgegen, die uns mit Schmerz erkennen lassen, wie die Aufklärung doch noch lange nicht alle Schichten der Bevölkerung durchdrungen hat und der Aberglaube noch ein ausgedehntes Reich behauptet. Muß es uns nicht mit Erstaunen und Betrübniß erfüllen, in Frankreich und im Elsaß die seltsamsten Wundergeschichten auftauchen zu sehen? Ist nicht selbst die Nothwendigkeit des Kampfes der Staatsregierungen gegen die Anmaßung und die Uebergriffe des katholischen Clerus ein trauriges Zeichen von der noch nicht gebrochenen Macht des Wahnes? Den Rückhalt am Volke, der dem deutschen Clerus zu Theil wird, findet der brasilianische nicht, und ohne jegliche Ruhestörung werden die widerspenstigen Herren Bischöfe in Gewahrsam gebracht.

Um so greller contrastirt mit der Freisinnigkeit und Toleranz in Brasilien der Fanatismus, der eine deutsche Seele ergriffen und sie zu Gräuelthaten hingerissen hat, die uns in die Zeit Knipperdolling’s zurückzuversetzen geeignet sind.

Der Deutsche, der sich in allen Ländern der Erde einzubürgern versteht, hat auch unter dem glücklichen Himmelsstriche der Provinz Rio Grande do Sul in Brasilien sich ein Heim gegründet und den Urwaldsgürtel, der sich von dem Hochplateau der Serra Geral nach den Flußniederungen hinzieht, besiedelt. Wo früher dichter, undurchdringlicher Urwald den Boden deckte, hat der Fleiß der deutschen Colonisten im Laufe von wenig mehr als zwanzig Jahren ausgedehnte Colonien gegründet, deren blühende Orangenhaine, üppige Felder und freundliche Auen mit den an vielen Punkten wohlhäbig ausschauenden Häusern dem Auge des Reisenden ein überraschendes Bild entrollen.

Der neu ankommende Einwanderer muß freilich eine Zeit des Kampfes mit den Schwierigkeiten der ersten Urbarmachung seines Waldgrundstückes bestehen, ehe er sich seines neu erworbenen Besitzes erfreuen kann, der ihn bei Fleiß und Ausdauer später zu einer Wohlhäbigkeit führt, wie sie dem von Hause aus vermögenslosen Arbeiter und Tagelöhner in Deutschland oft unerreichbar ist. In dem ältern Theile der deutschen Colonien, wo die Bauern bereits zu Wohlstand gelangt sind, ihr schuldenfreies Grundstück mit oft mehrstöckigen steinernen Häusern und außerdem nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_643.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)