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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 46.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Nach fünfzig Jahren.


Aus den Papieren eines Wohlbekannten.


„Fünfzig Jahre heute! … Der Maitag begann damals so sommerlich warm wie heute … und welche entsetzliche, welche grausige Nacht folgte ihm!“

So sprach am ersten Sonntags-Maimorgen des Jahres 1863 ein Mann in grünem Jagdrocke halblaut vor sich hin. Schneeweiß war sein kurzgestutzter Schnurrbart, und schneeweiß quoll ihm das Haupthaar unter der grünen Mütze hervor. Die tiefen Furchen, welche über seine Stirn und über seine gebräunten Wangen liefen, waren – das erkannte ein geübtes Auge sofort – nicht blos Spuren der Jahre, die über ihm hingegangen, sondern mehr noch Eindrücke der Sorgen und Leiden, die ihn heimgesucht zu haben schienen.

Er saß allein auf einer Bank im Morgensonnenscheine vor einem Forst- und Jagdhause, das, keine tausend Schritte von den letzten Häusern eines in Obstbäumen versteckten Dorfes entfernt, dicht am östlichen Ende eines Waldes stand, der im freundlichen Elsterthale nach Norden, Westen und Süden weithin sich erstreckte, während vor demselben, nach Osten, das kleine Dorf nach einer großen Fläche fruchtbarer Felder hin an einem niedrigen Hange hinanstieg.

Als er die oben angeführten Worte gesprochen hatte, saß der Mann lange schweigend mit tiefgesenktem Haupte da, bis im nahen Dorfe die Kirchenglocken erklangen, um zu dem Frühgottesdienste zu rufen. Alle, die jemals an einem stillen Frühlingsmorgen im Freien Glockentöne vernommen, haben gewiß selbst empfunden, mit welch eigenthümlicher geheimnißvoller Macht sie das Menschenherz ergreifen. Auch auf den alten Förster übten die Morgenglockenklänge ihre tiefe Wirkung. Er nahm langsam die kurze Tabakspfeife aus dem Munde, dann ebenso langsam die grüne Mütze von dem weißen Haupte und faltete die Hände, während tiefandächtige Rührung in seinen Zügen sich ausprägte.

„Die Glocken rufen zur Kirche,“ sagte er leise. „Mich erinnert ihre Stimme immerdar, heute ergreifender als jemals, an den Dank, den ich dem lieben Gott vor fünfzig Jahren schuldig geworden bin.“

Er blickte aufwärts zum Himmel und fuhr dann fort:

„Herr, mein Gott, ich danke Dir. Ein halbes Jahrhundert hast Du mich schützend behütet. Sie ließest Du Ruhe und Frieden finden im Grabe, und die Erde hat das Geheimniß, das furchtbare, getreulich bewahrt.“

Er schwieg von Neuem, und als die Glockentöne verhallt waren, setzte er die Mütze wieder auf.

Alles war still, feierlich still um ihn her. Der alte Jagdhund, der zu den Füßen seines alten Herrn lag, schlief. Hinter dem Hause nur, in dem dicht angrenzenden Walde, ließ ein Vogel seinen schmelzenden Gesang erschallen.

Der Alte zündete seine Pfeife wieder an.

Eine Viertelstunde war vergangen; da kam ein anderer Mann, mit der Büchse auf der Schulter, um die Ecke des Hauses vom Walde her und sagte, sobald er den Alten bemerkte:

„Wir haben doch viel Windfall, Vater. Der Gewittersturm gestern hat ärger gehauset, als wir dachten. Auch unsere einzige Tanne drüben hat er entwurzelt.“

„Die Tanne?“ fragte der alte Förster seltsam bewegt. „Die Tanne?!“ wiederholte er, während er aufstand. „Die Tanne?“ fragte er zum dritten Male und zwar in einem Tone, der nicht blos Bedauern über den Fall des Baumes, sondern eine gewisse Aengstlichkeit zu verrathen schien.

Er nahm auch die Pfeife wieder aus dem Munde und steckte sie in die Tasche, was er immer that, wenn ihn irgend etwas ungewöhnlich ergriff.

Der Sohn sah verwundert und fragend den Vater an.

„Vor fünfzig Jahren, heute vor fünfzig Jahren,“ fuhr der Alte fort, „habe ich die Tanne, damals nur ein Stämmchen, eigenhändig gepflanzt, in schwerer Zeit, in der Nacht, in der entsetzlichsten Nacht meines Lebens.“

„Davon hast Du noch nie gesprochen,“ antwortete der Sohn.

„Um keinen Preis hätte ich jemals davon sprechen mögen. Ich vermied sogar, so viel wie möglich, selbst die Nähe des Baumes und seinen Anblick, weil er mich an Furchtbares erinnerte. Jetzt muß ich zu ihm gehen.“

Der Sohn trat in’s Haus, der Alte aber wendete sich zum Gehen. Sobald er einen Schritt gethan hatte, stand auch der alte Jagdhund auf, schüttelte und dehnte sich und schickte sich an, seinen Herrn zu begleiten. Ehe beide um die Ecke des Hauses, nach dem Walde zu, gekommen waren, sprangen zwei Kinder, ein Knabe und ein jüngeres Mädchen, aus der Thür und eilten dem Alten nach.

„Großvater!“ rief der Knabe. „Laß’ uns mitgehen in den Wald!“

Der Alte antwortete nicht, aber die Kinder liefen voraus. Als sie eine kleine Strecke weit in den Wald hineingegangen waren, rief der Knabe, der weit voraus war, zurück:

„Die Tanne steht nicht mehr.“

Der Alte antwortete nicht, aber er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_735.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)